Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Exkurs: SM (und andere sexuelle Orientierungen) als Krankheit

Arne Hoffmann, Friday, 14.03.2003, 11:09 (vor 7734 Tagen) @ susu

Als Antwort auf: Re: Verstiegen .... von susu am 13. März 2003 21:07:11:

Hallo ihr zwei,

Steht meines Wissens immer noch drauf, hast du da irgendwelche Quellen?

Ich erspare Rüdiger vermutlich einiges an Tipperei, wenn ich die entsprechenden Passagen aus meinem "Lexikon des Sadomasochismus" einfach hier rüberziehe.

Es gibt zwei international gültige Diagnosehandbücher der Psychologen. Das, worauf sich Rüdiger offenbar bezieht, ist das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), herausgegeben von der US-amerikanischen American Psychiatric Association (APA). Es umfasst auch die sexuellen Paraphilien wie etwa den Sadomasochismus. 1973 wurde dort die Homosexualität aus der Liste der Geisteskrankheiten gestrichen, was besonders unter den Psychoanalytikern zu massiven Protesten führte. Seit 1994 gilt mit dem DSM IV, also der vierten Überarbeitung dieses Handbuchs, auch sadomasochistisches Verhalten grundsätzlich nicht mehr als seelische Störung. Ein Sadomasochist, der weder einen Leidensdruck verspürt, also von seiner Neigung "geheilt" werden möchte, noch Einschränkungen im alltäglichen Leben erfährt, könne nicht mehr als "krank" eingestuft werden. Der im Einverständnis mit sich, seinem Partner und seiner Umwelt lebende Sadomasochist, der sich bei seiner Leidenschaft wohl fühlt, wurde damit mehr als 100 Jahre nach Krafft-Ebings "Psychopathia Sexualis" hochoffiziell von dem Stempel der "Perversion" befreit. Die weltweit mehreren Millionen Sadomasochisten, die über Nacht von gefährlichen Geisteskranken zu braven, gesunden Mitmenschen wurden, bewältigten diese Umstellung gut.

Dies alles gilt wohlgemerkt für den US-amerikanischen Raum. Sobald du als Sadomasochist aus den USA nach Europa kommst, bist du plötzlich wieder krank. Hier wird nämlich überwiegend die International Classification of Diseases (ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) angewendet, die deutlich konservativer ist. Während etwa das amerikanische DSM die Homosexualität bereits 1973 von der Liste der seelischen Störungen strich, konnte sich das ICD erst im Januar 1993 zu diesem Schritt entschließen. Ähnlich verhält es sich mit der Einstellung gegenüber dem Sadomasochismus. Wurde diese Neigung im Jahre 1994 im DSM aus der Liste der psychischen Krankheiten getilgt, hält das ICD-10, das im Januar 2000 verbindlich in Deutschland eingeführt wurde, noch immer an dieser Einordnung fest und führt unter der Kodierung F65.5 sadomasochistische Neigungen als "Persönlichkeits- und Verhaltensstörung" auf, solange sie "die hauptsächliche Quelle der Erregung oder für die sexuelle Befriedigung unerlässlich sind".

Im Dezember 1995 protestierte der deutsche Hartmannbund, die Standesvertretung der Ärzteschaft, in einem an den damaligen Bundesgesundheitsminister Seehofer gerichteten Schreiben gegen die Einführung des ICD-10: "Der ICD-10 ist für die Kommunikation zwischen Ärzten und mit anderen Beteiligten des Gesundheitswesens ungeeignet, weil Fehlinterpretationen vorprogrammiert sind; zudem wirft er neue ungelöste Probleme des Datenschutzes und der Datensicherheit auf. Noch bedenklicher sind die Codes für Begriffe wie »gesteigertes sexuelles Verlangen« (F52.7), für die es keine medizinischen Kriterien gibt. Wo die Grenze zwischen einer unverkrampften Einstellung zur Sexualität und eines pathologischen Sexualverhaltens gezogen wird, bliebe damit de facto den moralischen Vorstellungen und persönlichen Vorurteilen der einzelnen Ärzte überlassen. Bedenklich ist das schon deswegen, weil die Ärzteschaft als eher konservativ gesehen werden muss – noch 1962 wurde in Lehrbüchern der Sexualmedizin ... über 40 Seiten den »Grundsätzen der christlichen Kirche« gewidmet. Zwar bestehen solche Probleme auch ohne ICD-10, aber diese moralischen Wertungen durch den Arzt blieben dank der ärztlichen Schweigepflicht bisher immer weit weg von den neugierigen Augen der Krankenkassen. Man muß vermuten, dass die Krankenkassen alle nicht ihrer Vorstellung der Norm entsprechenden Praktiken im Zweifelsfall erst mal als »riskantes Sexualverhalten« einzustufen werden, mit den entsprechenden Konsequenzen für den Versicherten." Diese Einwände blieben jedoch, ebenso wie die Proteste von Homosexuellen und Sadomasochisten gegen das Öffentlich-Machen ihrer Neigungen, von deutschen Politikern ungehört. Unter Sexualmedizinern ist inzwischen allerdings im Gespräch, die ICD-10 wenigstens durch einen Zusatz zu entschärfen und auf den Stand des DSM IV anzuheben. International arbeitet vor allem die "Norwegian Association for Lesbian and Gay Liberation" (LLH) an einer Streichung der Diagnosen Fetischismus und Sadomasochismus aus dem ICD-10.

Herzlicher Gruß

Arne


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