Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Wie versprochen: Grundsatztext

susu, Sunday, 02.03.2003, 23:53 (vor 7746 Tagen)

Der große Grundsatztext oder auch: Der keine Unterschied

Ich bemühe mich hier um Kürze, denn dieser Text ist höchstens als Essay gedacht, nicht als erster Entwurf einer längeren Arbeit. Bis jetzt habe ich nicht vor, mal ein Buch zu schreiben... Zur besseren Lesbarkeit und um mich vor endlosem SHIFT+2 drücken zu bewahren habe ich auf Gänsefüßchen um die Begriffe Mann, Frau, männlich, weiblich, Männlichkeit und Weiblichkeit verzichtet, sie können von den Lesenden mitgedacht werden.

Teil 1: Some boring theory

Ohne Theorie geht gar nichts, weil ohne sie der Rahmen fehlt, in dem Genderpolitik gemacht werden kann. Nur wenn die einzelnen Probleme auf gemeinsamme Ursachen reduziert werden können, ist es möglich sie wirklich zu lösen und auch präventiv zukünftige Probleme erst gar nicht entstehen zu lassen. Ich beziehe mich auf dekonstruvistische Thesen, die von Butler und ihren NachforgerInnen formuliert wurden, beziehe aber auch eine weitere Ebene mit ein, nämlich die Konstruktion von Eigenschaften und Tätigkeiten als geschlechtlich, die erst die Grundlage für das "doing gender" bieten, das von Butler dargestellt wurde.

Unsere Kultur definiert so gut wie jede Tätigkeit oder Eigenschaft entweder als männlich oder weiblich, wobei verschiedene Eigenschaften und Tätigkeiten (ab jetzt zusammenfassend als Praxen bezeichnet) verschieden stark geschlechtlich geprägt sind. Beispiele:
1. Ein Mensch geht über die Straße.
2. Ein Mensch stillt ein Kind.
3. Ein Mensch ejakuliert.
4. Ein Mensch ist blond.
5. Ein Mensch ist kurvenreich gebaut.
6. Ein Mensch ist bärtig.
Wenn wir eine Gruppe fragen, welches Geschlecht die Menschen in den Beispielsätzten besitzen, so werden wir bei 1 und 4 keine signifikanten Unterschiede in der Häufigkeit bei der Nennung von Mann und Frau finden, bei 2 und 5 wird es so gut wie keine Nennung von Mann und bei 3 und 6 so gut wie keine von Frau geben. Anhand dieser Praxen trefen wie auch unsere Feststellung, ob es sich bei einem Menschen um einen Mann, oder eine Frau handelt. Im Alltag werden Menschen nicht Aufgrund irgendeiner Biologie eingeteilt (Ausnahme ist hier die Medizin, die sich darauf beruft), sondern Aufgrund dieser geschlechtlichen Praxen. Hier liegt der grundlegende Unterschied zwischen den konstruktivistischen Thesen Butlers und den existentialistischen Simone de Beauvoirs. Beauvoir erklärte "Man wird nicht als Frau, geboren, man wird dazu gemacht", Butler sagt, man könne nie Frau sein, sondern nur so agieren, daß man als Frau gelesen werde, gemacht wird nicht "die Frau", sondern ein frauender Mensch (die benutzung von frau als Verb ist allerdings von mir, ich frau, du fraust, er/sie/es fraut).

Nun kommen wir zur ersten Abwertung: Der Abwertung auf der Basis von Inkongruenz. Damit die Einordnung von Menschen durch Betrachtung der geschlechtlichen Praxen funktioniert, ist es notwending einen gesellschaftlichen Druck aufzubauen, damit Frauen keine männlichen und Männer keine weiblichen Praxen besitzen. Je särker eine Praxe der Geschlechtsbestimmung dient, um so stärker die Abwertung, die Personen, die diese, wenn sie dem anderen Geschlecht zugeordnet ist, ausüben, erfahren. Dabei kann die betreffende Person diese Abwertung mildern, wenn sie eigengeschlechtlich definierte Praxen verstärkt übernimmt, der Hausmann wird gesellschaftlich tragfähing, wenn er zumindest mal im Fußballverein ist, die Karrierefrau kann ihr "unweibliches" Verhalten korregieren, indem sie ein Kind in die Welt setzt. Extreme Abweichungen werden aber weiterhin sanktioniert. Mehr zu diesem Thema gibt´s in Teil 4.

Wenn es eine erste Abwertung gibt, gibt es natürlich auch eine zweite. Diese Abwertung wurde von Theoretikerinnen der 80er Jahre herausgehoben, die dem Dekonstruktivismus eher negativ gegenüberstehen. Ihre Thesen lassen sich meiner Meinung nach allerding in zentralen Punkten in den Gedankengang Butlers einbeziehen, was ich hier jetzt versuchen werde. Diese Abwertung ist die patriarchale (um bei der Nomenklatur der Theorie aus dem die Gedanken ursprünglich stammen zu bleiben) Abwertung. Schlüsselpositionen gesellschaftlicher Macht und Anerkennung erforden Praxen, die geschlechtlich männlich besetzt sind. D.h. weibliche Praxen sind gegenüber männlichen disprivilegiert, was ihren Nutzen für die Gesellschaft nicht unbedingt wiederspiegelt (die Fähigkeit zur Erziehung von Kindern ist wahrscheinlich wichtiger als die Fähigkeit auf Kommando zu töten, dennoch bietet die Bundeswehr bessere Bezahlung, höheres Ansehen und bessere Aufstiegschancen als ein Kindergarten). Was selten betrachtet wurde, ist der Effekt dieser zweiten Abwertung auf Männer.

Teil 2: Zwei Abwertungen - vier Bewegungen

Die zwei Abwertungen ziehen vier Bewegungen nach sich:
1) Einen Feminismus (oft Essentialistisch geprägt), der versuchte weibliche Werte auf eine Stufe mit männlichen Werten zu stellen. Im Zentrum stand leider oft ein Sozialisationsfatalismus, der Männern und Frauen gar nicht zutraute anders zu handeln als es ihrem Geschlecht entsprach. Trotzdem hat dieser Ansatz die Diskussion darüber eröffnet, welche Eigenschaften eigentlich gewollt sein sollten, auch wenn er zu einigen bedenklichen Entwicklungen geführt hat.
2) Einen Post-Strukturalistischen Feminismus, der als Ziel die Aufhebung der geschlechtsbezogenheit von Praxen hat. Damit richtet er sich entschieden gegen den Essentialismus und stellt die erste Abwertung in den Mittelpunkt. Leider stimmt oft der Vorwurf, die zweite Abwertung werde vernachlässigt, Frauen müssen ja nicht jeden Blödsinn, den Männer machen auch machen (z.B. Krieg).
3) Die emanzipatorische Männerbewegung (von mir auch echte Männerbewegung genannt). Sie zeigt auf, das die neuen Männer von beiden Abwertungen dirket betroffen sind und nimmt daher eine Position ein, die zwischen beiden Feminismen liegt. Nicht zuletzt versteht sich das Autori als Teil der emanzipatorischen Männerbewegung und formuliert daher eine Geschlechterpolitik auf der Basis des Geschlechtsverständnisses beider Feminismen.
4) Die anti-emanzipatorische Männerbewegung (oder "echte Männer"-Bewegung). Die anti-emanzipatorische Männerbewegung richtet sich gegen die Bestrebungen der anderen 3 Bewegungen. Die sich hier beteiligenden Männer sind die alten Männer und von keiner der beiden Abwertungen betroffen. Sie sehen keinen Grund zur Veränderung (höchtens zum Rückschritt in einen füheren Zustand) und argumentieren oft essentialistisch. Die anti-emanzipatorische Männerbewegung richtet sich im besonderen gegen die emanzipatorische Männerbewegung und versucht diese zu ursupieren, in dem sie sich auf ihre Texte stützt, diese aber inhaltlich aushöhlt. Hier werden die von der emanzipatorischen Männerbewegung aufgezeigten gender troubles von Männern gegen die von Frauen aufgerechnet, um dann zu sagen "Seht her, die Ungerechtigkeit ist gerecht verteilt, was wollt ihr eigentlich."

Teil 3: Zur Sache, baby

Auf der Sachebene finden sich viele Beispiele, in denen die Thesen der emanzipatorischen Männerbewegung mit denen einer der beiden Feminismen zusammenfallen. Ich werde hier auf 2 Themen kurz exemplarisch eingehen, dies sind häusliche Gewalt, und Erziehung. Bei anderen Themen ist ähnliches möglich.

häusliche Gewalt:
DV (domestic violence) wurde zunächst von 1 thematisiert und zwar ausschlißlich als Gewalt, die von Männern gegen Frauen ausgeübt wurde. Es ging darum, das Schweigen der Opfer zu brechen und Möglichkeiten zu schaffen, ihnen zu helfen (Frauenhäuser, Beratungsstellen, etc.). 2 griff das Thema auf und stellte die Frage nach weiblichen Tätern und männlichen Opfern. Kritisiert wurde, daß die Eigenschaft Opfer bzw. Täter zu sein geschlechtlich fixiert wurde und damit den Opfern von Gewalt durch Frauen (Lesben und heterosexuelle Männer) und männlichen Opfer von Gewalt durch Männer (Schwulen) die Möglichkeit genommen wurde, ihr Schweigen zu brechen. 3 nahm sich der männlichen Opfer an und versucht nun, ebenfalls Beratungsmöglichkeiten und "safe spaces" zu schaffen, dabei orientiert 3 sich am praktischen Ansatz von 1 übernimmt aber die theoretischen Voraussetzungen von 2. 4 versucht derweil das Thema kleinzureden, indem erklärt wird, daß, wenn es Täter und Opfer beiderlei Geschlecht gibt, das Thema nicht mehr relevant sei. Dies müssen die anderen drei Gruppen scharf zurückweisen. 3 weist darauf hin, daß männliche Opfer von beiden Abwertungen betroffen sind, denn Opfer zu sein, heist schwach zu sein, heißt weiblich sein = doppelte Abwertung.

Erziehung:
Erziehung von Kindern ist eine weiblich Praxe, d.h. 1 kritisierte, daß sie gesellschaftlich zu wenig Anerkennung ernte, wähhrend aus Sicht von 2 die Fixierung von Erziehung als Aufgabe problematisiert wurde. Wieder trifft Männer die sich hier engagieren die doppelte Abwertung. Sie habe weniger Möglichkeiten teilzeit zu Arbeiten und werden oft im Beruf diskriminiert wenn sie z.B. Erziehungsurlaub genommen haben. 3 macht darauf aufmerksam, daß Kinder ein Recht auf einen aktiven Vater haben (so sie denn aus heterosexuellen Beziehungen stammen), Vätern die diesen Anspruch enlösen wollen oft jedoch Hindernisse in den Weg gelegt werden. Nach den Forderungen nach aktiven Vätern von 2 kommt nun die Frage nach der Förderung aktiver Väter auf, auch in Hinblick auf das Bild der Gesellschaft. 4 versucht sich jeglicher Verantwortung zu entziehen und trifft dabei zum Teil auf offene Ohren bei 1. Im Endeffekt verläuft die Diskussion zwischen 1/4 und 2/3, d.h. jeweils eine Frauen- und eine Männerbewegung vertreten ein gemeinsammes Anliegen.

Teil 4: Der ganze Rest: Queer

Schon am Anfang mag sich die eine oder der andere gefragt haben, was passiert, wenn die Geschlechtsbestimmung über die geschlechtlichen Praxen versagt. Was passiert, wenn ein Mensch beide Extreme vertritt, was, wenn er keins von beiden vertritt. Mensch mit Bart stillt, etc. Eine Sonderform ergibt sich, wenn wir die sogenannte Zwangsheterosexualität betrachten. Die Praxe Sexualität ist in einer Zwangsheterosexuellen gesellschaft sehr stark geschlechtlich fixiert. Damit gelten die beiden Sätze A:"Ein Mensch, der Sex mit einer Frau hat, ist ein Mann." und B:"Ein Mensch, der Sex mit einem Mann hat, ist eine Frau." Haben jetzt zwei Frauen Sex miteinander sind beide nach Satz A Männer, dann sind es aber zwei Männer, die Sex miteinander haben und nach Satz B logischerweise wieder Frauen... Unsere Definition der ersten Abwertung betrifft Menschen, die über die Praxen nicht sicher einem Geschlecht zugeordnet werden können und/oder wollen nicht. Tatsächlich findet sich aber auch in diesem Fall eine Abwertung auf der Basis von Über- bzw. Unterdefinition, ein Mensch kann nach bestehender Logik nur entweder ein Mann oder eine Frau sein, die Antworten "weder noch" sowie "beides" sind unmöglich. Trotzdem werden andere Gender gelebt, nur sind sie weitestgehend Stimmenlos (Schwule und Lesben sind noch die Privilegierteren Formen von Queer, was für den Rest nichts gutes heist).

Teil 5: Warum Frauen nicht zuhören und Männer immer Schuhe kaufen (oder so ähnlich)

"It´s the biology, stupid!" Oder auch "What about the body?" Was soll schon sein? Aber ich weis was gemeint ist. Nämlich: Es gibt eben zwei biologische Geschlechter und die haben eben unterschiedliche Physis und Psyche. Das Problem mit dieser Ansicht ist folgendes: Schon bei den primären Geschlechtsteilen gibt es Ausnahmen, bei den sekundären gibt es schon mehr Ausnahmen als nicht-Ausnahmen und bei den sogenannten tertiären liegt der Gausskurvenpeak des einen Geschlechts in einem Bereich, in dem die Gausskurve des anderen Geschlechts noch größer als das 2^-0,5-Fache des Peakwertes ist und das entspricht den Erwartungen für ein nicht mit dem Geschlecht korreliertes Merkmal. Statt Männern und Frauen könnten wir also genau so gut LinkshänderInnen und RechtshänderInnen nehmen, da käme dasselbe bei rum. Davon ab hängen viele der Meßbaren Körpereigenschaften von den Lebensgewohnheiten der gemessenen Personen ab, d.h. auch von geschlechtsbezogenen Praxen. Dazu kommt, daß Biologie heute tatsächlich kein Schicksal mehr ist und selbst die immer genannten biologischen Grundlagen von allen adaptiert oder abgeschaft werden können. Männer können Kinder kriegen und stillen, Frauen können das Menstruieren auch schon in den frühen 20ern sein lassen, kein Unterschied, der nicht klein genug zu überwinden wäre.

Teil 6: Ausblicke

Was bleibt? Sozial konstruierte Regeln, die die Freiheiten einzelner Menschen beschneiden. Geschlechterpolitik steht vor zwei großen Herausforderungen, die miteinander verwoben sind. Und wenn alle, die diese Politik wünschen an ihrer Durchsetzung mitarbeiten, dann ist sie nicht nur eine Utopie, sondern tatsächlich realisierbar. Und das letzte, was eine Bewegung braucht, die sich unter anderem gegen die Unterscheidung der Geschlechter wendet, ist diese Unterscheidung in sich selbst und interne Steitereien. Diskussion heist immer auch miteineander zu reden, anstatt gegeneinander. Wenn das mal überall ankäme, dann wäre schon viel gewonnen. Denn beim derzeitigen Kampf zwischen Männerbewegten und Frauenbewegten gibt es einen ganz klaren Verlierer: Die Sache.

susu


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