Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Verstiegen ....

susu, Thursday, 13.03.2003, 23:07 (vor 7734 Tagen) @ Rüdiger

Als Antwort auf: Verstiegen .... von Rüdiger am 12. März 2003 22:49:06:

Hallo Rüdiger

Tut mir leid, aber eine Kopie ohne Original ist m. E. nicht vorstellbar.

Was wäre denn das Original? Wäre ein Frauenfußballnationaltrikot auch TV? R.A.Wilchins schreibt: Kein Mann hat je Fraunekleidung getragen, denn wenn er sie Trägt ist sie per Definition Männerkleidung. (aus dem eben erst angelesenen "GENDERqUEER")

So so, 40 % der Menschen fällt durchs Raster. Ich nehme aber mal an, daß die meisten von denen durchaus fortpflanzungsfähige Individuen sind, also funktionsfähige Mitglieder des einen oder anderen Geschlechts, sich selber eindeutig zuordnend, von anderen ebenso zugeordnet und nix irgendwo in der Mitte ...

Hier liegt der Hase im Pfeffer: Zugeordnet werden. Wie das i.d.R. vor sich geht steht im Grundsatztext, oder läßt du erst mal eine Untersuchung zur Fortpflanzungsfähigkeit durchführen, bevor du zu einem Menschen Mann oder Frau sagst? BTW, einige der 40% liegen nicht in der Mitte sonder außerhalb, ein Mann mit Testo-Werten die über dem Grenzwert für Männer liegen ist kein Mann i.S.d. medizinischen Definition mehr.

Das Problem scheint mir dann eher in der Definition der Mediziner zu liegen als in der Realität, in der die meisten Menschen instinktiv eine Zuordnung treffen können. Tut mir leid, diese Diskussion kommt mir immer verstiegener vor. Mag ja sein, daß es schwer ist, den Begriff "Geschlecht" definitorisch zu fassen, aber daß es die Geschlechter gibt, ist von so überwältigender Evidenz, daß es mir echt lächerlich erscheint, daran herumzudeuteln.

Evident ist:
1. Es gibt verschiedene Körper.
2. Die Biologie bestimmt bei diesen nach verschiedenen Methoden das Geschlecht und kommt zu unterschiedlichen Ergebnissen (Mann in einer Arbeit eines Genetikers ist anders definiert als in der eines Evolutionsbiologen, eines Anatomen oder eines Endokrinologen, daher sprechen Medizinern von verschiedenen Geschlechtern, etwa dem hormonellen, dem gonodalen oder dem genetischen, meist besteht kein Zweifel darüber, daß es mehr als zwei dieser Geschlechter gibt)
3. Die Medizin reduziert diese Mehrzahl der Geschlechter, die jeder Mensch besitzt auf "das Geschlecht".
4. Die Medizinische Definition bildet die Basis unseres Rechtssystems (Männer und Frauen sind gleichberechtigt, der Rest fällt da unter den Tisch)
5. Die rechtlichen und medizinischen Definitionen gehören zu den Praxen, die in bestimmten Kontexten herrangezogen werden.

Es ist auch sehr schwierig zu sagen, was ein "Wort" ist, Bibliotheken sind von Sprachwissenschaftlern schon darüber geschrieben worden, dennoch kommt der Begriff in jeder Feld-, Wald- und Wiesengrammatik vor, ist unentbehrlich, und jeder kommt dank seinem Vorwissen gut damit zurecht ... Auch in der Erkenntnistheorie gibt es viele Ungewißheiten, etwa den "Skandal der neuzeitlichen Philosophie" (so mal einer meiner Religionslehrer): die Nichtbeweisbarkeit der Welt. Die radikalste Schlußfolgerung, die ich daraus ziehen könnte, wäre, Solipsist zu werden. Das ist aber irgendwie albern. "Der Glaube der meisten Menschen an die Außenwelt ist machtvoll und instinktiv; wir könnten unser Leben gar nicht führen, wenn wir nicht die meisten Dinge einfach so unhinterfragt akzeptierten." (Thomas Nagel, sinngemäß zitiert).

Diese Fragen sind entziehen sich jeder empirischen Forschung (die Letzte stellt die Möglichkeit überhaupt empirische Forschung betreiben zu können in Frage). Die Frage, ob es genau zwei Geschlechter gibt und was dieser Begriff enthält, ist aber durchaus empirisch betrachtbar. Es ist unmöglich (egal mit welcher Definition) eine Zweigeschlechtlichkeit zu definieren ohne ein Geschlecht als "alle anderen" zu bezeichnen. Eine solche Vorgehensweise ist aber schlichtweg schlechte Wissenschaft.

Mit den medizinischen Definitionen ist es so eine Sache; sie scheinen mir oft eher unrealistisch hohe Vorgaben als realistische Beschreibungen zu liefern; so dürften "normale" Augen mit 100 % Sehschärfe und "normale" Gebisse mit 32 Zähnen (einschließlich Weisheitszähnen) nur eine Minderheit der Menschen besitzen. Daraus nun aber etwa zu folgern, zwei Augen seien "ein soziales Konstrukt", nur weil's auch Leute gibt, die blind geboren werden, erscheint mir albern. - Warum sollte sich Arne für Männer einsetzen, wenn es solche gar nicht gibt?

Zum einen gibt es kein Analogon zu Gender, was Sehstärke oder Zahnanzahl angeht. Niemand käme auf die Idee nur alle Menschen, die ihre Weisheitzähne noch besitzen zum Bund zu schicken, oder bestimmte Kleidungsstücke Blinden vorzubehalten. Zum anderen ist die Sehstärke tatsächlich ein soziales Konstrukt, weil sie über einen zufällig definierten Prozess ermittelt wird (Buchstaben verschiedener Größe auf eine festgelegte Entfernung erkennen). Was sind da 50% Sehstärke? Wann ist 0% erreicht? BTW, alle Abstrakta sind konstruiert. Und warum sollte Geschlecht da eine Ausnahme machen?

Dein Letzter Satz erinnert mich stark an die Kritik, die Anfang der 90er an J.Butler gerichtet war. Da wurde gesagt, ihre Arbeit sei Anti-Feministisch, denn wie solle über die Benachteiligung von Frauen geredet werden, wenn Frauen nur ein soziales Konstrukt seien. Jetzt ist die Argumentation also sowohl Anti-Frauenbewegung als auch Anti-Männerbewegung (und dabei steht sie doch in einem Text, in dem es darum ging beide zusamenzuführen...). Wenn ich sage, daß Geschlecht eine soziale Konstruktion ist, dann bedeutet das nicht, daß es irrelevant ist (Tempolimit, Grundgesetz und Soziale Marktwirtschaft sind auch sozial konstruiert, dennoch haben sie einen Einfluß auf unser Leben). Vielmehr bedeutet es, daß die Art und Weise beleuchtet wird, in der es auf uns wirkt. Ich habe im Grundsatztext folgendes geschriben:

Anhand dieser Praxen trefen wir auch unsere Feststellung, ob es sich bei einem Menschen um einen Mann, oder eine Frau handelt. Im Alltag werden Menschen nicht Aufgrund irgendeiner Biologie eingeteilt (Ausnahme ist hier die Medizin, die sich darauf beruft), sondern Aufgrund dieser geschlechtlichen Praxen.<<

D.h. du hast Recht, wenn du sagst, die Mehrheit wird einem Geschlecht zugeordnet. Nach dieser Feststellung existieren "Männer" und "Frauen", die dann von den Abwertungen 1 und 2 betroffen werden können. D.h. es ist durchaus möglich sich für die Belange dieser konstruierten Gruppen einzusetzen (das der Eintrag in der Gebutsurkunde sozial konstruiert ist, ändert nichts an der Tatsache, daß nur diejenigen, bei denen ein m steht Wehr- oder Ersatzdienst leisten müssen), speziell deshalb, weil dieser Ansatz konkret die hinter den Belangen stehenden Mechanismen in den Mittelpunkt rückt, an Stelle einer Gruppendefinition.

Ach? Ich dachte, der wirft einen Blick auf die primären Geschlechtsmerkmale, und fertig. Und trifft das dann nicht auch in 99 % aller Fälle zu? Ist nicht das, was der Arzt als "Mädchen" einträgt, in den allermeisten Fällen auch tatsächlich ein (fortpflanzungsfähiges) Mädchen? Wenn es da eine hohe Fehlerquote gäbe, hätte sich sicherlich schon allgemein Kritik an diesem Vorgehen der Ärzte geregt.

Was sagen die Geschlechtsmerkmale aus? Und worüber? Auf diese Basis stellt sich dannach doch ein ganzes System von Vermutungen (z.B. werden Annahmen über hormonelle und psychische Entwicklungen getroffen.). Falsch ist der Eintrag nach Definition der Mediziner in 40% der Fälle (dann wird meistens allerdings an den Menschen etwas geändert, anstatt am Eintrag). Bei 1 bis 2 von 2000 Geburten gucken die Ärzte vergebens, dann wird der Eintrag zum Roulette-Spiel (weil weder/noch gibt´s nicht).

Es gibt noch XXY, 0X, XYY, XXYY, XXXY (0Y ist nicht lebensfähig). Und sogenannte Mosaics, bei denen verschiedene Körperteile verschiedene Chromosomensätze besitzen (passiert wenn zweieiige Zwillingsföten im Frühstadium verschmelzen, bei späteren Stadien führt das zu Siamesischen Zwillingen).<<

Ja - und wie häufig ist das? Du argumentierst hier mit irgendwelchen Raritäten, aber das Vorhandensein von Ausnahmen ist keine Widerlegung der Regel.[/i]

Eben diese eine Geburt unter 1000-2000. Es gibt demnach zwischen 40.000 und 80.000 solcher Ausnahmen. Das sind mehr als doppelt so viele, wie es AE Väter gibt. Nach deiner Diktion müßte ich die jetzt auch völlig ignorieren. Und bei gerade mal 6000 TG in D-Land müßte ich mir selbst als irrelevant erscheinen. Nur weil nicht allzuviele Morde geschehen, sagt ja auch niemand: Dann ist es ja egal.

>Aber mal im Ernst, was hinder mich daran, das, was ich da sehe z.B. als erregierfähige Vagina zu beschreiben?<<

Die sprachliche Konvention hindert Dich daran. Ich weiß nicht mehr, welcher Schriftsteller einst die Story von dem alten Mann schrieb, der sich langweilte und sich dann damit zu amüsieren begann, daß er den Teller Bett nannte und den Stuhl Tisch usw. Alles benannte er um, und am Schluß verstand ihn keiner mehr ... Nebenbei: Die Sache selbst ändert sich dadurch ja nicht. Ein Tisch bleibt ein Tisch, auch wenn Du ihn "Stuhl" nennst. Ein Penis bleibt ein Penis, auch wenn er "Vagina" genannt wird. Die Vagina müßtest Du dann auch umbenennen, damit die Unterscheidbarkeit wieder da ist (auf die möchtest Du wohl gerne verzichten, aber es sind nun mal verschiedene Dinge), und schon haben wir "dasselbe in Grün", d. h. veränderte Bezeichnungen der (unveränderten) Dinge.[/i]

Die Dinge verändern sich, je nachdem wie du sie ließt. Ganz konkret, ganz individuell. Und was wäre sprachliche Konvention, wenn nicht eine Konvention und damit... Sozial konstruiert.

Ich halte diese Aussage dennoch für gerechtfertigt, denn wie gesagt: Eine Ausnahme ist keine Widerlegung einer Regel. Eine Regel muß nicht ausnahmslos gelten, um eine Regel zu sein. Bei der Mannigfaltigkeit menschlicher Formen (die solche Definitionen so schwierig macht)kann es keine solchen "ausnahmslosen" Begriffe geben. Menschen sind keine perfekten Maschinen, beinahe jedes Organ kann bei dem einen oder anderen Menschen mißgebildet sein, das ist keine Widerlegung gegen den Satz: "Ein Mensch hat in der Regel zwei Augen, zwei Nieren usw." Zu diesen Mißbildungen muß man doch wohl in der Regel auch die Zwitterbildungen rechnen, denn fortpflanzungsfähig sind die i. d. R. doch wohl nicht, oder?

Ich würde hier den abwertenden Begriff "Mißbildungen" anprangern, ebenso den von den hermaphroditen abgelehnten Begriff "Zwitter". Der Punkt ist, daß es sich hier um eine natürliche und erwartete Variation handelt, es ist keine Überaschung, daß Hermaphroditen existieren und es gibt keinen Grund sie abzuwerten oder als nicht-existent anzusehen. Aber, die Anzahl der Nieren steht nicht auf der Geburtsurkunde, ist nicht in geltendes Recht eingebunden und hat keine sozialen Auswirkungen. Und: es gibt AFAIK durchaus fortpflanzungsfähinge Hermaphroditen.

Jetzt nimmer, es ist aus der Liste der psychischen Erkrankungen gestrichen worden.

Steht meines Wissens immer noch drauf, hast du da irgendwelche Quellen?

Grüße
susu


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