Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Der natürlich "schlechte" Mensch - - @ Garfield & all

Nomad Soul, Wednesday, 02.10.2002, 15:29 (vor 8471 Tagen) @ Garfield

Als Antwort auf: Re: Gedanken von Garfield am 02. Oktober 2002 10:31:05:

Hallo Garfield,

obwohl Dein letzter Beitrag an Jolanda addressiert war, würde ich trotzdem gerne einen kleinen Kommentar dazu loswerden. Dein Menschenbild erscheint mir an manchen Stellen nicht ganz schlüssig. In einem der oberen Beiträge habe ich gesagt, Mensch zu sein bedeute u.a., die "Entscheidung darüber zu haben, was und wie man etwas tut" und Du stimmtest mir zu. - In dem vorangegangenen Beitrag schreibst Du jedoch wieder von den "obligaten" negativen Seiten der menschlichen "Natur", die Du ja auch schon in vorangegangenen Artikeln historisch belegen konntest. Trotzdem scheinst Du einem Fehlurteil zu erliegen, denn nicht alles, was in der Natur vorkommt, ist automatisch richtig, und nicht alles, was ein Mensch jemals gemacht hat, gehört automatisch zur "menschlichen Natur". Hierbei handelt es sich um einen Logikfehler, der aufgrund der "Psycho-logisierung" des Denkens entsteht und leider unglaublich verbreitet ist. Der Irrtum beruht darin, daß die Psychologie alles "vorgekommene" dem "normalen" zuordnet; jede Tat wird zu einem Ausdruck der "menschlichen Natur". Das ist in zweierlei Hinsicht fatal: einerseits führt gerade diese Denkweise zu einer "Aufhebung der Norm" (alles ist nach diesem Prozeß "normal"), andererseits aber auch zu einer Aufhebung der Fakultativität. Mit der Aufhebung der "Normalität" des Menschen bzw. der Integration der "Schattenaspekte" ist das Individuum (so es sich mit diesem System zu identifizieren gedenkt) gezwungen, all diesen negativen Dinge als Teil seines Selbst zu akzeptieren.

Mit dieser "Psycho-Logik" produzieren wir aber gerade das notorisch potentiell asoziale Individuum - z.B. kann ich mittels dieser "Logik" kurzsichtig behaupten, jeder Mann wäre ein Vergewaltiger, weil er (a) potentiell die Möglichkeit hat, zu vergewaltigen, es (b) in der Geschichte schon oft vorgekommen ist und (c) das "Gesetz" von der Aufhebung der Norm sagt, daß man das "vorgekommene" als "normal" zu betrachten habe. - Verstehst Du, wohin uns diese Argumentation gerade führt? Denn wenn das in der Geschichte vorgekommene wirklich "normal" und obligat ist, dann hat man auch keine Entscheidung mehr. Dann nämlich existiert wirklich ein "Vergewaltigungstrieb", aber die von mir schon erwähnte Verlagerung der Norm von einer horizontalen in eine vertikale Skalierung macht es Dir unmöglich, das von Dir zu weisen. Du hast statt dessen nur noch die "Wahl", ob Du Deinen "Trieb" auslebst oder ihn unterdrückst (wobei uns die Psychologen ja immer wieder versichern, wie gesundheitsgefährdend die Unterdrückung oder Sublimation eines Triebs ist >;o) *sardonisches Grinsen*

Mit diesen paar einfachen Schritten haben wir es also gerade geschafft, uns selbst zu kriminalisieren und dann auch noch zu problematisieren, "bedürftig" zu machen. Vor allem aber haben wir auf dieser Scheinlogik eine Wahrheit errichtet, die bereits unglaublich populär durch die Medien geistert: Alle Männer sind Vergewaltiger. - Behaupte das Gegenteil, und ich verweise Dich auf die obige Argumentation. Erschreckend, was?!

"Glücklicherweise" ist gerade diese Herangehensweise ein Denkfehler; das, was vorgekommen ist (und vorkommt) ist nicht "normal", der Mensch hat sehrwohl die Wahl zwischen realen "Entscheidungen", nicht bloß zwischen "Trieberfüllung" und "Verweigerung".

Andererseist hast Du aber auch gerade damit ein ganz wesentliches Problem der Zeit angesprochen, das vielleicht sogar die Begeisterung gerade bei Jugendlichen für diese Talkshows erklären könnte. Denn das Mitteilen von Individuellem in einer Gesellschaft, in der "Experten" am vermeintlich besten über uns Bescheid wissen, alles "normal" ist und jede individuelle Erfahrung zu einer nur noch "allgemein-menschlichen" wird, muß das Bedürfnis nach einer Möglichkeit, sich selbst auszudrücken verzweifelt gigantisch sein. Daß auch das "Sich Outen" in Talkshows nicht das gewünschte Ergebnis bringt, weil es das Bedürfnis nach einer Bezugsperson, die *wirklich zuhört*, niemals befriedigen kann, spielt insofern keine Rolle, als es sich auch hierbei um ein Produkt des Kommerzialismus, der auschließlich an der wirtschaftlichen Verwertbarkeit eines Schicksals interessiert ist, handelt. Aber deine Argumentation, "[...] die Menschen [lebten] ihre negativen Bedürfnisse eben anders aus" und "bespitzeln [...] die Nachbarn, verklagen sie aus nichtigen Gründen usw." finde ich lustig - das klingt fast so, als sei die ehemalige Staatssicherheit ein Resultat mangelnder Überflutung mit Nachmittags-Talkshows *fg* - nein, Spaß beiseite; die Sache ist wohl zu ernst.

Natürlich ist das Problem/Phänomen Talkshow damit nicht umfassend geklärt; dazu ist das Thema wohl auch zu komplex. Ich wollte auch nur darauf aufmerksam machen, daß man mit echtem Zuhören eine ganze Menge Unsinn verhindern könnte und davor warnen, zuviel zu psychologisieren. Die Psychologie hat so ihre Schwachstellen, und eine unkritische Kultivierung dieser Denkweise begründet letztendlich viele Positionen im "Geschlechterkampf" (Ich hasse dieses Wort!). - Aber das würde wohl zu weit führen, und überhaupt war Dein Beitrag ja auch eigentlich an Jolanda gerichtet.

MfG, Saut

PS: Ich find, die Positionen von Kirche und Sexualität müßten mal aufgebessert werden. Die Sache immer nach dem Stand des finstersten Mittelalters zu beurteilen ist etwa genauso sinnig wie eine Beurteilung der Lage der Frau anhand aufgrund derselben Zeit. Ich gehöre zwar nicht zum "Club", aber wenn ich heute eine Meinung über Sexualität hören möchte, dann kann ich - nach meinen Erfahrungen - sagen, daß Kirchenleute meist eine wohltuendere Meinung zum Thema haben als viele der Sexualtherapeuten ... nur so zum nachdenken.

PPS: @ Jolanda - "nn" war nur ein Tipp-Fehler *g*


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