Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Eine beunruhigende Betrachtung dazu

Maesi, Wednesday, 21.01.2009, 02:32 (vor 5593 Tagen) @ Chato

Hallo Nick

Bemerkst du die überaus kunstvolle Komposition, mittels derer Orwell den
Leser ins zeittranszendierte Ewige hinübernimmt? Winston sitzt in der
Spelunke und hört und sieht dort im Televisor die seit Ewigkeiten immer
gleichen Nachrichten vom endgültigen Sieg in einem Krieg, an dessen Beginn
sich längst niemand mehr erinnern kann und der auch niemals enden wird.
Krieg bedeutet ja Friede und Unwissenheit Stärke. Er rennt in die
Begeisterung dieses ewiggleichen, unerhörten Sieges, indem er einfach
unbeweglich sitzen bleibt; dieses Rennen ist also ein rein seelisches.
Physisch trinkt er fuseligen Gin, den die Kellner unaufgefordert
nachschenken, sobald das Glas leerer zu werden beginnt. Aber trinkt er ihn
tatsächlich? Und wenn ja: wo trinkt er ihn?

Die Vaporisierung beginnt natuerlich schon lange vor der physischen Vernichtung und sie muss keineswegs zwingend zu letzterer fuehren. Miniwahr arbeitet ja ebenfalls daran, dass jeder Regimegegner vaporisiert wird, indem diese aus saemtlichen Informationsquellen getilgt werden, die gesamte Geschichte umgeschrieben wird. Ob Minilieb die medial vaporisierten Dissidenten auch noch umbringt oder nur umdreht (wie Winston), ist aus Sicht des Regimes sekundaer. Im metaphorischen Sinne wurde Winston bzw. seine Persoenlichkeit vernichtet, er existiert nicht mehr als eigenstaendiges Individuum sondern lediglich noch als dahinvegetierende Koerperhuelle mit einem vom Regime eingepflanzten 'Geist'. Erinnerst Du Dich an Dein Bildnis von den Zombies, welche andere Zombies in Rollstuehlen herumkarren, welches Du dann als Filmrechte an Speven Steelberg verkauft hast? Winston ist ein solcher Zombie geworden. Er glaubt, dass er noch lebt und seinen grossen Bruder liebt; aber eigentlich ist er schon tot.

Andererseits werden in Orwells Geschichte auch Popanze geschaffen, die zu hassen Pflicht jedes Ozeaniers ist. Emanuel Goldstein ist im Roman ja keine reale Person sondern bloss eine Hassfigur, der Klassenfeind schlechthin. Ist es ein Zufall, dass er einen juedischen Namen traegt? Wohl kaum, wenn man die Geschehnisse in den Jahren vor dem Entstehen des Romans beruecksichtigt. Ob Big brother physisch existiert oder bloss eine fiktive Idealfigur der ozeanischen Machthaber ist, weiss der geneigte Leser ebenfalls nicht. Miniwahr ist propagandistisch allmaechtig und konstruiert eine virtuelle Realitaet, die fuer den gehirngewaschenen Ozeanier die 'Wirklichkeit' darstellt. Solcherart kuenstlich geschaffene Realitaeten kennen wir heute ja zur Genuege. Sie sind zwar noch nicht so perfekt konstruiert wie in Orwells Roman, sodass man sie mit ein bisschen Grips eigentlich durchschauen kann, aber viele Menschen glauben auch hierzulande nur allzugerne an die schoene virtuelle Realitaet und verabscheuen die nicht so schoene Wahrheit.

In einem Deiner Postings hast Du auf Eva Herman hingewiesen. Die Medienhetze gegen sie war ein hervorragender Indikator, wie weit wir schon auf dem Weg zur virtuellen Realitaet eines bislang imaginaeren ozeanischen Staates sind. Die groesseren Mainstreammedien haben die Hetze weitgehend unterstuetzt, (pseudo-)kritische Toene waren dort hoechstens in der Form von 'Eva Herman habe diese Hetze so nicht verdient, sie sei ja bloss ein Dummchen, das von nichts eine Ahnung habe' zu vernehmen. Das aber ist eine besonders perfide Form von Vaporisierung des Gegners, denn das Laecherlichmachen gehoert ins Standardrepertoire jedes 'aufrechten' Hetzpropagandisten in der Tradition Goebbels. Wirklich kritische Auseinandersetzungen mit Frau Hermans Buechern gab es lediglich in kleineren, meist einem urspruenglicheren Geist von Journalismus verpflichteten Zeitungen und v.a. in den zahlreichen unabhaengigen Blogs. Immerhin war die Flut von empoerten Verlautbarungen aus der Bevoelkerung ueber das gnadenlose Fertigmachen von Frau Herman in den Mainstreammedien derart gross, dass man zum ermutigenden Schluss kommt: der Durchschnittsbuerger ist noch laengst nicht so gehirngewaschen wie die Medienschaffenden in den Redaktionsstuben der grossen Zeitungen und Fernsehsender. Da stehen Miniwahr und Minilieb also noch gewaltige Arbeitspensen ins Haus, bis auch der groesste Teil der Bevoelkerung so dummdreist und hasserfuellt auf einen erklaerten Klassenfeind reinpruegelt, wie es die intellektuell-mediale 'Elite' bereits getan hat. Die Anti-Herman-Hetze zeigte auch exemplarisch auf, dass die Intellektuellen mindestens so anfaellig auf Propaganda sind wie der einfache Buerger von der Strasse. Ich bin sogar der Meinung, dass letzterer weit eher bereit ist, seine Meinung aufgrund von Fakten zu revidieren, als ersterer, der lieber in seinem offensichtlich faschlen Ideologiegebaeude hocken bleibt und Fakten ignoriert/leugnet, als zuzugeben, er habe sich mit seiner Meinung geirrt.


Gruss

Maesi


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