Über Staat und Kirche
Seit unter Kaiser Konstantin die christliche Kirche toleriert wurde (313), begann zwischen Kirche und Staat eine Mesalliance heranzureifen. [1] Das erste allgemeine Konzil der Kirche (Nikaia, 325) fand unter dem Vorsitz des noch nicht getauften Konstantin statt, der sich als Inhaber der höchsten weltlichen Macht und zugleich als >Bischof für äußere Angelegenheiten« der Kirche verstand. Die Symbiose von Staat und Kirche sicherte dem Staat über die Kirche zusätzliche Gewalt, garantierte dem Staat die Existenz eines ideologischen Einheitsbandes (die Einheit der Ideologie war noch immer ein Sicherheitsfaktor erster Ordnung für die Einheit des Staatsgebildes) [2], versprach aber auch der Kirche nicht nur die ideologische Alleinherrschaft, sondern auch den Schutz ihrer Eigenhandlungen (im kultischen, im seelsorglichen wie im karitativen oder rechtsprechenden Bereich). [3] Das Pendel um die Vorherrschaft von Staats- und Kirchengewalt schlug einmal nach der einen, meist aber nach der anderen, zugunsten der kirchlichen Gewalt aus, - in letzten Andeutungen noch heute bemerkbar - versuchte und versucht sie, sich staatlicher Organe zur Durchsetzung ihrer Ziele und Zwecke zu bedienen. [4] Dieser Zumutung kommen viele staatliche Stellen nicht gerade selten nach, weil sie sich von solchem Verhalten eine systemstabilisierende Praxis des kirchlichen Einflusses versprechen. [3]
Es wäre also vermutlich falsch, den Nutzen, den die Kirchen aus konkreten staatskirchenrechtlichen Regelungen ziehen, als reine Geschenke zu betrachten. Auch der konkrete Staat hat seine Interessen daran. Er verspricht sich Nutzen davon, mit den Kirchen in Frieden zu leben. Durch seine Leistungen gegenüber den Kirchen erkauft er sich deren grundsätzliches Wohlverhalten. Das aber ist durchaus Manipulation.
So ist es in der BR Deutschland keineswegs leicht, die offizielle katholische Lehre über gesellschaftliche und ökonomische Abläufe zu vertreten. Man erntet nicht nur das Mißtrauen staatlicher, sondern auch kirchlicher Stellen. Ich selbst wurde einmal darauf hingewiesen, daß meine Ansicht zwar mit den päpstlichen Lehraussagen voll übereinstimme, politisch jedoch höchst inopportun sei. Nun muß man wissen, daß Papst Paul VI. keineswegs ein Freund kapitalistischer Strukturen oder Anschauungen ist, die er für radikal egoistisch angelegt und daher für ebenso radikal unchristlich hält. Doch darüber schweigt zumeist nicht nur die offizielle Kirche in der BR Deutschland, sondern auch in ziemlicher Einmütigkeit die gesamte (oder nahezu die gesamte) Presse. Manche päpstlichen Lehräußerungen werden offensichtlich als deplaziert oder doch als peinlich empfunden. Zumindest kommen sie politisch oft ungelegen. [5]
Nun ist die katholische Großkirche (ähnliches gilt auch für Großkirchen der Reformation) in sehr verschiedenen Staaten mit sehr verschiedenartigen vor-, hoch-, spät-, nachkapitalistischen Ordnungsstrukturen zu Hause. Sie kann es sich durchaus leisten, Kritik zu üben, nicht ganz so die Kirchen in bestimmten politisch eindeutig festgelegten Ländern. Hier ist das Wider-den-Stachel-Löcken schon sehr viel schwieriger und verlangt einigen Mut, der durchaus von nicht wenigen, etwa südamerikanischen Bischöfen aufgebracht wird. Meines Wissens aber von keinem deutschen. [6] Dabei haben unsere mitteleuropäischen Kirchen eine positiv zu wertende, zugleich aber auch systemstabilisierende Funktion übernommen.
Kapitalistisch verfaßte politische und ökonomische Strukturen produzieren zunehmend mehr >Ausschuß«, das sind Menschen, die an den Anforderungen einer zumindest nicht gesunden Gesellschaft scheitern oder gar zerbrechen. Diesen Randgruppen kann mit dem kapitalistischen Allheilmittel, dem Geld, nicht mehr oder doch nicht dauernd und effizient geholfen werden. Somit produziert die kapitalistische Ordnung zunehmend mehr Menschen, die an und durch sie scheiterten: Strafgefangene und -entlassene, Rauschgiftsüchtige, Neurotiker verschiedener Genese und Darstellungsform, Ausgeflippte ... Bodensatz der Gesellschaft, das moderne Lumpenproletariat, dem im Gegensatz zu dem des 19. Jahrhunderts nicht die materielle Hilfe fehlt, sondern die geistige.
Hier haben die Kirchen ein breites Feld ihrer Tätigkeit vor sich, beginnen gar schon mitunter zaghaft mit wirkungsvoller Hilfe. [7] Doch sie tragen und sichern zugleich damit ein geistig marodes Staats- und Wirtschaftsgebilde. Wir stehen also vor einer neuen Komplementarität (oder Symbiose) von Staat und Kirche, in der die Kirche diesmal die Hauptarbeit zu leisten und das Staatsinteresse in der Hauptsache das Sagen hat. Auch hier sind Ansatzpunkte für Manipulierbarkeit gegeben, zugleich aber bietet sich auch die einmalige Chance für die Kirchen, sich von politischen Absichten und Zwecken kritisch zu emanzipieren. [8] Sie haben nicht mehr nur die Funktion durch Beeinflussung der Menschen, die beiden Zonen angehören, Staat und Kirche, konkreter Staatsverfaßtheit zu dienen, sondern sie können Menschen helfen, die Staat und Ökonomie nicht mehr wirkungsvoll erreichen. Sehen sie hier einen Hauptpunkt ihrer seelsorglichen Funktion, können sie den staatlichen Organen mit einem neu erweckten und moralisch gerechtfertigtem Selbstbewußtsein gegenübertreten und mehr Gerechtigkeit fordern und nicht nur zögernd und undeutlich anmahnen.
[...]
Im Parteienstaat besteht die Gefahr der faktischen Entpolitisierung der Staatsmacht, da die alleinigen Träger und Verwalter politischen Denkens und Agierens die Parteien geworden sind. Der Staat ist dann faktisch unregierbar. Er verwaltet noch bestenfalls nach ihm auferlegten oder aufgezwungenen Spielregeln das Gemeinwesen im Interesse einer Partei oder einer Parteienkoalition. Auf diese Weise kommt es zu einer demokratisch verkleideten und verpackten Oligarchie. Die Oligarchen sind die wenigen, die über das Wollen der Partei entscheiden. [9]
[...]
Auf diese Weise kann es zu einer nahezu autonomen Exekutive kommen. Das aber bedeutet die Herrschaft der Technokraten und Bürokraten, die sich allenfalls als Parteimitglieder das Wohlgefallen der Partei sichern müssen, nicht aber das der Bürger. [10]
Rupert Lay, "Manipulation durch die Sprache", Ullstein 1990, ISBN: 3-548-34631-6
Eigene Anmerkungen:
[1] Es wird oftmals vom Islam als Staatsreligion gesprochen, dabei ist die KK die einzig wahre, römische Staatsreligion.
[2] IMHO versucht der Staat dies nun auch mit dem Islam, wenn davon die Rede ist "einen verlässlichen Ansprechpartner unter den muslimischen Verbänden" zu finden.
[3] Feministische Kulthandlungen sind in Deutschland ja auch sehr weitgehend geschützt. Ich frage mich nur, ob der Feminismus langfristig auch die staatstragende und -stabilisierende Funktion der Kirchen übernehmen kann. Die Wut der Männer auf den Staat wird der Feminismus im Gegensatz zur Kirche nicht besänftigen können.
[4] Ebenso tut es der Feminismus, was meine These vom Feminismus als Ersatzreligion stützt.
[5] Das mag alles so sein, aber Feigheit vor dem Feind ist keine gute Ausrede.
[6] Meines Wissens wurde das den lateinamerikanischen Bischöfen durch den Papst gründlich ausgetrieben.
[7] Sehr zaghaft. Das Buch ist inzwischen fast 20 Jahre alt und ich habe da keine Steigerung erkennen können.
[8] Wenn sei doch endlich diese Chance wahrnehmen würden und mit der Emanzipation anfangen würden.
[9] No further comment
[10] Ein bisschen Polit-Unterhaltung für den Bürger fällt aber noch ab.
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