Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Zitat-Belege

Garfield, Tuesday, 28.08.2007, 21:18 (vor 6096 Tagen) @ Chato

Hallo Nick!

In Bezug auf die Ostblockstaaten hast du vielleicht noch Recht. Aber selbst da bezweifle ich stark, daß ohne Marx nicht alles ähnlich gelaufen wäre.

Stell dir mal vor, es hätte keinen Ersten Weltkrieg gegeben. Dieser Krieg hätte ja durchaus vermieden werden können. Zwar sehe ich es durchaus nicht so, daß das Deutsche Reich damals diesen Krieg begonnen und allein gewollt hat, aber auch in Deutschland gab es damals Kriegstreiber, und es gab auch einfach vollkommen inkompetente Außenpolitiker und einen inkompetenten Kaiser. Wäre das anders gewesen, dann hätte das politische, wirtschaftliche und militärische Gewicht des Deutschen Reiches ausgereicht, um den Frieden zu erhalten. Dann wären viele europäische Länder zumindest nicht so stark in die Krise gerutscht. Sicher - es hätte auch so Wirtschaftskrisen gegeben, aber eben keine Millionen Kriegstoten und Hungersnöte obendrauf. Vermutlich hätte es in Rußland auch ohne Krieg eine Revolution gegeben, wenn man sich dort weiterhin vor den nötigen Reformen gedrückt hätte, aber daß der Leidensdruck der Bevölkerung dort groß genug geworden wäre, um noch eine zweite Revolution hinterher zu schieben, möchte ich mal bezweifeln. Aus Rußland wäre dann eine sogenannte bürgerliche Demokratie geworden, und die Sowjetunion sowie den Ostblock hätte es nie gegeben.

So wäre Marx dann heute wohl nur einer von unzähligen Philosophen, und kaum jemand würde ihn noch kennen.

Eine Ideologie reicht eben nicht aus, um die Welt zu verändern. Sie muß auch einen günstigen Nährboden vorfinden.

Im übrigen hatte das, was Lenin ab 1917 in der Sowjetunion installierte, auch nicht unbedingt etwas mit Marxismus zu tun. Marx hat ja das bereits erwähnte Stufenmodell der gesellschaftlichen Entwicklung entworfen, und er hat die Theorie aufgestellt, daß eine neue Stufe immer erst dann erreicht werden kann, wenn die vorherige Stufe voll entwickelt und zum Hemmstein der Entwicklung geworden ist. Außerdem muß die vorherige Stufe auch die Grundlagen für die neue Stufe geschaffen haben. Ein Beispiel:

Im Mittelalter herrschte in Europa laut dem Marxschen Modell der Feudalismus. Er war gekennzeichnet durch überwiegend landwirtschaftliche Produktion mit kleinen Handwerksbetrieben in den Städten. Die Handwerker waren in Zünften organisiert, die sicherstellten, daß die Märkte fair unter den Zunftmitgliedern aufgeteilt und gegen Konkurrenten von außerhalb möglichst gut abgeschottet waren. So wurde auch die Zahl der Mitarbeiter eines Handwerksbetriebes üblicherweise begrenzt, oder man begrenzte sogar die Anzahl der produzierten Produkte, damit kein Zunftmitglied die anderen ausstechen konnte. Nach und nach entwickelten sich die Technologien weiter, es gab also immer bessere Maschinen, und bald war es möglich, in Manufakturen größere Mengen von Waren zu produzieren. So wurden Stoffe ursprünglich in Heimarbeit gewebt, aber als es dann große und weitgehend automatische Webstühle gab, konnte man Stoffe in Manufakturen schneller und billiger herstellen. So wurde die Zeit nach und nach reif für den Kapitalismus, aber der Feudalismus hemmte diese Entwicklung, z.B. durch die alten Zunftregeln, die den Handwerkern den Bau von großen Manufakturen untersagten. Ab dem 17. Jahrhundert wurden diese Hemmsteine nach und nach beseitigt, zuerst in England, dann auch in Frankreich und in anderen Ländern. Bis sich der Kapitalismus schließlich durchgesetzt hat und überall Fabriken wie Pilze aus dem Boden schossen.

In Rußland war diese Phase 1917 noch gar nicht wirklich beendet. Laut den Theorien von Marx hätte man hier also erst einmal den Kapitalismus durchsetzen müssen. Lenin hat sich darüber einfach hinweg gesetzt und behauptete obendrein noch Anfang der 1920er Jahre, daß es in der Sowjetunion in 20 Jahren den Kommunismus geben würde! Dieser Widerspruch zu den Lehren von Marx war den russischen Kommunisten auch durchaus bewußt. Sie bezeichneten ihre Ideologie deshalb nicht als Marxismus, sondern als Marxismus-Leninismus und sahen das Ganze als Weiterentwicklung der Marxschen Lehren. In China verfuhr man später ähnlich und propfte auf den Marxismus-Leninismus noch die Mao-Bibel als der Weisheit angeblich letzten Schluß obendrauf.

So hat sich jeder Machthaber, der sich selbst als Kommunist bezeichnete, die Lehren von Marx so hingebogen, wie sie ihm am besten paßten. Wenn es Marx nie gegeben hätte, dann hätten die sich einfach irgendeinen anderen Theoretiker ausgesucht. Und wenn es keinen gegeben hätte, ja, dann hätten sie sich notfalls eben eine ganz neue Ideologie aus dem Kopf gedrückt, in der Hoffnung, daß sie genügend verzweifelte Menschen finden, die ihnen das abnehmen.

Letzteres ist der entscheidende Punkt. Und da ist es nun aber so, daß die Verzweiflung vieler Menschen nicht von ungefähr kommt, sondern von den Verhältnissen, die vor der Übernahme der Macht durch irgendeinen Diktator existiert haben. Da muß man also die Ursachen suchen.

Daß Marx vom zu seiner Zeit herrschenden Zeitgeist beeinflusst war, bestreite ich überhaupt nicht. Es gab in dieser Zeit durchaus nicht wenige Menschen, die der Meinung waren, daß Frauen gar fürchterlich benachteiligt seien. Das für Frauen nicht gültige Wahlrecht bestärkte viele Menschen in dieser Überzeugung oder schuf diese Überzeugung überhaupt erst. Aber in den Schriften von Marx schlägt sich das vergleichsweise gering nieder, und Feministinnen gab es auch damals schon keineswegs nur in der Arbeiterbewegung, sondern es hat immer auch bürgerliche Frauenorganisationen gegeben, die mit kommunistischer Ideologie gar nichts zu tun haben wollten.

Freundliche Grüße
von Garfield


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