Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

Archiv 1 - 20.06.2001 - 20.05.2006

67114 Postings in 8047 Threads

[Homepage] - [Archiv 1] - [Archiv 2] - [Forum]

Ergänzung

Simon, Wednesday, 17.09.2003, 20:12 (vor 7550 Tagen) @ Simon

Als Antwort auf: Re: Hillary Clinton for President? / @Simon von Simon am 17. September 2003 16:54:13:

Sehr schön zum letzten Thema wieder mal Maxeiner und Miersch:

http://www.maxeiner-miersch.de/standp2003-07-30a.htm

Verschwörungstheorien
Hintergrund:
Bücher mit Verschwörungstheorien zum 11. September und zur Rolle der USA stürmen die Bestsellerlisten. Sie finden selbst in der so genannten "Mitte der Gesellschaft" bemerkenswerte Resonanz.

Ich sage nur Wolfowitz!
von Dirk Maxeiner und Michael Miersch

Vor ein paar Tagen saßen wir im ICE und studierten die politischen Wochenmagazine und die Tagespresse. Auch "Christiansen" vom Vorabend war noch präsent. Alsbald lästerten wir leise über die Haltung der meisten Deutschen zur amerikanischen Politik. Nicht leise genug: Eine junge Frau blickte kurz aus ihrem Buch ("Simplify your life") auf und umriss ihre ganze Verachtung für unsere US-freundlichen Sottisen in vier Worten: "Ich sage nur Wolfowitz". Zuerst haben wir das nicht so recht verstanden, doch inzwischen wurde uns klar, dass diese vier Worte völlig ausreichen, um edlen Seelen kalte Schauer über den Rücken zu jagen. Wolfowitz! Alles klar.
Wenig später verfolgten wir eine Podiumsdiskussion im Münchner Amerikahaus. Ein schwer akademischer Event. Reichlich intellektuelle Stirnfalten. Endlos wurde ergründet, wie arg Wolfowitz und seine "NeoCons" Präsident Bush im Griff haben. Drei prinzipielle Positionen schälten sich heraus: Vollständig, ein Bisschen und gar nicht. Nun, wir wissen es nicht. Es hat uns nur gewundert, dass niemand die nahe liegende Frage stellte, ob die "NeoCons" vielleicht Argumente haben, über die man mal nachdenken könnte. Beispielsweise, ob eine Art "demokratischer Imperialismus" gegenüber Diktatoren und Islamisten gar nicht so dumm wäre. Oder ob konsequente Terrorismusbekämpfung in Kombination mit einem universellen Anspruch auf Freiheit und Menschenrechte Gutes bewirken könnte. Kein Wort dazu. Vom moderaten Kritiker bis zum glühenden US-Hasser (weiter ging das Spektrum nicht) raunten alle immer nur das Mantra "Wolfowitz". Gerne auch: "Die Wolfowitze dieser Welt".

Das ganze erinnert uns an die frühen achtziger Jahre. Auf Veranstaltungen von RAF-Sympathisanten zischten Redner mit dem stechenden Blick der Eingeweihten immer nur "Trilaterale Kommission". Diese erklärten sie, sei so eine Art Kondensat aus "Militärisch industriellem Komplex", "Internationalem Finanzkapital" und Helmut Schmidt. Dort werde ausbaldowert, dass die "Genossen im Knast" durch "Isohaft" gefoltert würden.

Jetzt haben also Wolfowitz und seine NeoCons die Trilaterale Kommission abgelöst. Aus dem Hinterzimmer des Weißen Hauses steuern sie das Weltgeschehen. Der Glaube einer Verschwörung finsterer Mächte hat sich von einigen Hundert RAF-Sympathisanten auf hunderttausende Normalbürger ausgedehnt. Es mag daran liegen, dass bei den NeoCons obendrein noch die "amerikanische Ostküste" im Spiel ist. Die "Weisen von Zion" lassen grüßen. Broeckers, von Bülow und Co. bedienen diesen Wachstumsmarkt. In Rekordzeit wuchs ein ganzes Genre der Verschwörungsliteratur heran, und dies unter tätiger Mithilfe gut bürgerliche Großverlage und seriöser Sendeanstalten. Bücher über Gerüchte breiten sich offenbar ebenso schnell und wirksam aus wie die Gerüchte selbst.

Ihr Erfolg zeigt unter anderem, wie sehr der nun schon zwanzig Jahre anhaltende Esoterikboom die Gesellschaft verblödet hat. Oft erleben wir, dass die gleichen netten Nachbarn, Partygäste oder Zufallsbekanntschaften, die mit düsterer Mine "Wolfowitz" raunen, im nächsten Augenblick über die Macht der Kristalle, Energiewasser oder ihren Aszendenten dozieren. Es sind zumeist die unpolitischen und eher desinteressierten Menschen, die sich die Welt mit Verschwörungen erklären. Die, die sich wenig informieren, ungern dazulernen, und immer schon alles geahnt haben.

Die meisten politischen Köpfe unterschätzen die Macht des Magischen fahrlässig. "Okkultismus ist die Metaphysik der dummen Kerle," denken sie mit Adorno. Aber diese Dummheit bedeutet nicht automatisch Schwäche und Randständigkeit. Sie kann sehr mächtig werden, wenn sie die viel zitierte "Mitte der Gesellschaft" erfasst. Jutta Ditfurth hat sich dankenswerterweise schon vor Jahren mit der Esoterikszene und ihren politischen Ausläufern befasst. Sie brachte an den Tag, wie ungeniert sich obskure Welterklärungsmodelle in der Ökoszene und anderen sozialen Bewegungen breit gemacht haben. Während die dunklen Blüten des Okkultismus früher bei der völkischen Rechten aufgingen, findet heutzutage vieles davon an den ausgefransten Rändern einer orientierungslosen Linken statt.

Es wird Zeit, dass sich kritische Intellektuelle, Schriftsteller und Journalisten stärker mit Esoterikern und ihren Verschwörungstheorien befassen. Kopfschütteln und Augenverdrehen reichen nicht mehr, um diese Leute in ihre Schranken zu weisen. Es sind leider zu viele geworden.



gesamter Thread:

 

powered by my little forum