Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Annäherungslösungen

Thorsten, Wednesday, 03.08.2011, 17:34 (vor 4653 Tagen) @ Dummerjan
bearbeitet von Thorsten, Wednesday, 03.08.2011, 17:47

Bitte worüber sprechen wir hier? Dass die Mehrheit die Mehrheitsmeinung
vertritt?

Wir sprechen hier darüber, daß jede Wahrheit, die wir aussprechen können, nur ein Modell, eine Annäherung und dazu noch ein kleiner Ausschnitt von der absoluten Wahrheit und Realität sein kann.

Und davon, daß der kleinste gemeinsame Nenner von vielen individuellen Wahrheiten, der in einer kollektiven Wahrheit, oder Mehrheitsmeinung, zum Ausdruck kommt, stark vereinfachend sein muß, um etwas zu formulieren, das alle unter einen Hut bringt und von allen verstanden wird. Deswegen haben wir Ideale, wie "Sicherheit", "Freundschaft", "Gleichheit", "Sauberkeit" (zumindest im Schwabenland ;-) und natürlich "Liebe", das höchste von allen. Aber wenn ich hier anfange von Liebe zu schwafeln, dann klinge ich wie beim therapeutischen Stuhlkreis mit Kamillentee.

Thorsten: die Zahl der Neuronen im menschlichen Gehirn reicht schlicht nicht dafür aus, um sie komplett zu erfassen.
Dies ist Deine Auffassung. Diese wird gemeinhin einsortiert im Schubfach Platonismus.

In die Schublade des Platonismus steckst Du mich ganz bestimmt nicht. Du denkst wahrscheinlich an Platons Höhlengleichnis. Und letzteres passt auf seine Art ganz gut hierher. ;-) Aber was mich von Platon unterscheidet, ist daß ich nicht an die Existenz von idealen und abstrakten Objekten und Formen unabhängig vom menschlichen Denken glaube. Ich halte sie für menschliche Modelle, die uns helfen, die Realität auf ein für uns begreifliches Maß zu vereinfachen. Und ich glaube, es gibt keine einfachere und vollständigere Beschreibung für die Realität, als die Realität selbst. Dafür gibt bestimmt auch schon eine Schublade, aber deren Name ist mir gerade weder geläufig, noch wichtig.

Doch es gibt nützliche Modelle von der Realität, wie zum Beispiel die Newtonsche Mechanik, die uns durch die industrielle Revolution begleitet hat und die Relativitäts- und Quantentheorie, mit der wir heute darüber hinausarbeiten. Für unsere Alltagsprobleme ist der gute alte Newton immer noch gut genug, und sein Model hat auch den Vorteil, für die meisten Menschen verständlich zu sein. Aber die absolute Wahrheit ist keines von alledem.

D'accord. Aber, pi ist eine wohldefinierte Zahl, auch ohne dass wir alle Stellen kennen.

Man kann natürlich alle möglichen mathematischen Konstanten definieren als idealisierte Annäherung an die Realität. Das ist für unsere Ingenieure überaus wichtig. Aber: So wie die Welt eben keine Kugel, sondern ein Geoid ist, ist auch kein Kreis in der realen Welt absolut perfekt, und deswegen kann man auch sagen pi existiere nicht in der Natur, sondern nur als idealer Grenzwert bei idealen Kreisen, und da sind wir schon wieder auf dem Weg zu Platon.

Und sobald es zu Fragen des menschlichen Zusammenlebens kommt, wo es schon ganz trivial angefangen um subjektive Befindlichkeiten wie "ab wann ist der Nachbar zu laut" und "ab wann ist das Treppenhaus zu schmutzig" geht, gibt es eben (außer absoluten und unerreichbaren) Wahrheiten nur Wahrheiten, die verschiedene Parteien (jetzt nicht im politischen Sinne) miteinander ausmachen. Es gibt kein absolut gerechtes Gehalt, es gibt das, was verhandelt wird. Und weil individuelles Verhandeln eine Unmenge an Zeit und Ressourcen verbrauchen würde, gibt es kollektive Tarifverhandlungen, und geschriebene Gesetze und überlieferte soziale Normen, die unser Zusammenleben regeln.

Nur: Nichts davon ist absolut. Jede Gruppe hat zunächst ihrer eigenen Normen. Und ich sehe klar und deutlich, daß es einen riesigen Streß und Konflikt verursachen muß, wenn man in einer schwäbischen Kleinstadt der lokalen Bevölkerung ein Asylbewerberwohnheim direkt vor die Nase pflanzt. Genauso wie es zu Streß und Konflikten führen muß, wenn sich die deutschen Immigranten in einer Schweizer Großstadt auf Grund der Sprache wie zu Hause fühlen und nicht auf die Unterschiede achten. Und nicht nur deutsche Urlauber sorgen im Ausland für Situationen die irgendwo zwischen "lustig", "peinlich" und "nur noch lästig" rangieren.

Es hilft dabei ungemein, wenn man sich der Situation bewußt ist und auf den anderen offen und mit Humor für die zu erwartenden Mißverständnisse zugehen kann. (Intellektuelle) Energie kostet es uns aber in jedem Fall, uns an eine neue, ungewohnte Situation anzupassen, der eine hat davon mehr, der andere weniger, aber jeder hat irgendwo seine individuelle Grenze, wo's genug ist mit dem Neuen.

Auf der anderen Seite gibt es natürlich die Lust auf Neues und Abwechslung, und durch zuviel Homogenität in einer Gruppe entsteht das, was man als spießiges Kleinbürgertum, kleingeistige Enge oder den typischen Kleintierzüchterverein bezeichnen könnte. Sorry, falls hier Kleintierzüchter mitlesen sollten, ich weiß das ist ein Klischee, Ihr seid nicht alle so.

Wie man das richtige Maß an Vielfalt und neuen Impulsen herstellen kann, und ob wir die Art von Einwanderern haben, die diese mitbringen, und wie man bei aller kulturellen Vielfalt verhindern kann, daß sich verschiedene Gruppen gegenseitig auf die Füße treten oder anderweitig in Konflikte verwickelt werden, das sind äußerst komplexe Fragen, auf die die "Habt-Euch-doch-alle-lieb-Gutmenschen" leider nur wenig praktikable Antworten parat haben. Auch das ist mir schmerzlich bewußt, aber an Kritik daran mangelt es hier ja nun wirklich nicht. Und was mich stört ist nicht die Kritik, sondern die Kurzsichtigkeit, die in der Wut verharrt und die Kritik um ihrer selbst willen übt und auch keine praktikablen Lösungsvorschläge zu Stande bringt, weil sie die Gegenseite lieber als raffiniert und böswillig, anstelle von als im Grunde gutwillig und hilflos überfordert darstellt.

Und das ist es eben: Sobald die Welt um uns herum zu komplex wird, um mit unseren einfachen Vorstellungen und Modellen bewältigt zu werden, vereinfachen wir, lassen wir den Rollladen runter, und grenzen das Unverstandene aus. Das ist menschlich. Und das geht mir beim Diskutieren hier genauso, ich habe zwar gerade etwas Zeit dafür, aber sowohl die als auch meine Geduld sind begrenzt, so daß ich mich gegen manches hier sehr klar abgrenzen muß.

Und genauso verhält es sich eben mit der Argumentation zur Frage, welche
Rolle bestimmte Argumentationen für die Tat Breiviks bestimmend war.

Es spielten eben ein ganze Reihe von Faktoren eine Rolle dabei. Breivik ist ein Mensch, der alle möglichen Impulse und Mittel aus seiner Umwelt aufgenommen hat und nach besten Wissen und Gewissen kombiniert hat. Und das meine ich ohne jegliche Ironie. Breivik ist für mich kein Irrer, nur einer, der mit den besten Absichten klare Grenzen ziehen wollte und dafür über Leichen ging.

Aber mir erscheint die Argumentation, dass die Tat ein Mittel war sich Gehör zu verschaffen in einer Welt in der manche nicht hören wollen durchaus plausibler und weniger weit hergeholt, vielleicht weil ich dies auch so erlebe.

Und weißt Du was? Da bin ich vollkommen einig mit Dir. Denn welcher Terrorist möchte sich nicht Gehör verschaffen und Aufmerksamkeit für seine Sache erregen?

Natürlich war die Politische Korrektheit ein Faktor von vielen, die zur Motivation und Möglichkeit der Tat beigetragen haben. Und ich finde es auch gut, sich Gedanken über die Konsequenzen des Ausgrenzens von Menschen oder Meinungen zu machen. Gerade aus der Feder von Savvakis hätte das ein verdammt guter Artikel werden können. Aber was er hier geliefert hat ist dermaßen einseitig und eindimensional, daß es zwar gut als Munition in der rhetorischen Schlacht zwischen den Lagern taugt, aber kaum beim Finden eines Auswegs und einer Lösung helfen wird.

Thorsten: Und so wie einige hier denken und argumentieren, ist die Erde ein Quadrat und PI der Nabel ihrer Welt.
Diese Metapher ist so schräg, dass diese schon wieder schön ist.

Und damit bringt sie ganz gut zum Ausdruck, wie ich manches hier empfinde. ;-)


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