Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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OT: Von der Schwere und Tiefe der kommenden Krisen

crystal ball, Saturday, 09.02.2008, 17:13 (vor 6525 Tagen)

Hallo

Bin mir bewusst, dass der Beitrag eher eine Synthese darstellt, würde mich aber gleichwohl freuen, wenn er hier stehen bleibt, angesichts der vielseitig interessierten Leserschaft. Die Hypothese: Die Finanzkrise, die wir derzeit als Zeitzeugen miterleben, ist nur ein kleiner Mosaikstein einer weitaus grösseren Veränderung, welche seit Jahrzehnten wenn nicht 2 oder 3 Jahrhunderten im Gange ist und sich auf die drei grossen Beziehungsmuster bezieht, welche eine jede Gesellschaft sowie die Weltgesellschaft als Ganzes prägen. Wer die tieferen Zusammenhänge und Abläufe erkannt hat, kann die Zukunft besser verstehen und akzeptieren lernen.

Die Hypothese besagt weiterhin, dass die Welt auf einen Fluchtpunkt zusteuert, den man als "Dunkles Zeitalter" begreifen kann. Im Folgenden möchte nicht auf die theoretischen und philosophischen Grundgedanken eingehen (nur soviel: das Problem scheint seit Jahrtausenden systeminhärent, es braucht keinen Yellow-Stone-Vulkan und keine Ausserirdischen), sondern eine unvollständige Bestandesaufnahme der drei Beziehungsmuster liefern bzw. die Richtung andeuten, in welche die Welt driftet.

Im Bereich der territorialen territorialen Integration: Machtverlust der Staaten, zentrifugale Tendenzen im Staatensystem

a) gesellschaftsintern/Westen
- schleichender Kontrollverlust der westlichen Staaten über ihre Grenzen bzw. Immigration aus der globalen Peripherie
- zunehmende Hinterfragung der Legitimität staatlicher Gewalt und Autorität (Steine gg. Krankenwagen in bestimmten Ländern u. Stadtvierteln). Verstärkende Wirkung der Medien
- Steuerflucht (wer dazu in der Lage ist)
- wachsende Gefängnispopulationen (USA, GB) trotz verstärkter Kriminalitätsbekämpfung durch den Staat (Kameras)
- zunehmende Fragilität der komplexen Infrastraktur i. W. gg. gewalbereiten und technisch versierten Individuen/Gruppierungen

Prognosen: immer mehr non-go-areas in Städten, wachsende Kriminalität trotz immer neuer Überwachungsmassnahmen. Der unbescholtene Bürger wird am meisten zu leiden haben (kein Privatbesitz von Waffen, Speedcameras etc.). Reiche Bürger werden Quartiere und Häuser abschirmen bzw. befestigen ("gated communities", s. Südafrika), im Innern von Nationen werden Strassensperren und kontrollen auftauchen. Das Gefühl der Unsicherheit wird wachsen - trotz hellblau gestrichener Unterführungen mit freundlicher Musik. Eine Transformation hin zu autoritären Regierungssystemen ist nicht unwahrscheinlich, entsprechende psychologische Vorbereitung der Bevölkerung ist zu erwarten. Dennoch zunehmende Unfähgkeit und Korruption des staatlichen Zwangsapparates. Öffentliche Grossanlässe wie die Olympischen Spiele oder die Fusballweltmeisterschaft erfordern ungeheure Sicherheitsmassnahmen und werden in immer mehr Ländern undurchführbar. Zwischenzeitlich und im finalen Kollaps offener Zusammenbruch der staatlichen Ordnung.

b) international
- sinkende Steuerungsfähigkeit der aktuell dominanten Weltmacht (USA). Aufkommen eines multipolaren internationalen Systems. Historisch betrachtet tendiert ein solches zu mehr Instabilität als ein bi- oder unipolares.
- weltweite Aufrüstung und Verbreitung moderner Waffentechnologie. Die Zeiten, wo Maschinengewehre Speerträger niedermähten, sind endgültig vorbei.
- Zunahme der Zahl (immer kleinerer) Staaten, Zunahme der Zahl der Grenzen (Auflösung UdSSR, Jugoslawien, Indien, Somalia, etc.)
fragwürdige Güte und Stabilität der EU, NAFTA u. ä (prognostischer Indiktor. "Wenn die EU in 30 Jahren...") im Vergleich zum traditionellen Nationalstaat. Zu erwartender "Ausreisser": Wiedervereinigung Koreas
- Zunahme von low intensity conflicts und failed states
- relative Machtlosigkeit der (westlichen) Staaten gg. internationalen Verbrechersyndikaten und dem Drogenhandel

Prognosen: Weitere militärische Engagements des Westens und katastrophale (taktische) Niederlagen sind denkbar, wobei immer der "strategic overstretch" immer offensichtlicher wird. In Ostasien braut sich eine ähnlich komplexes Geflecht von konkurrenzierenden Interessen und sich überschneidenden Loyalitäten zusammen wie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Hier sehe ich, wie auch im Nahen Osten eine echte Gefahr von klassischen zwischenstaatlichen Konflikten. Neben den traditionellen Brandherden wie dem B@lkan, den Nahostkonflikt, der Koreafrage, der Taiwanfrage und der Kaschmirfrage gibt es zahlreiche andere, weniger akute aber nicht weniger gefährliche Gefahrenherde sowie auch die Möglichkeit von verheerenden Aktionen durch nicht-oder semi-staatliche Akteure. Für den weiteren Zeithorizont (> 20 Jahre) besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass Massenvernichtungswaffen für die Kriegsführung eingesetzt werden. In der Phase des finalen Kollaps ist mit der massenhaften Invasion von Flüchtlinglingen aus der globalen Peripherie zu rechnen.


im Bereich des Wirtschaftens und der Innovation: Stagnation und wachsende Ungleichgewichte

a) gesellschaftsintern/Westen
- stagnierende Reproduktionsrate der Bevölkerung, zunehmende Schieflage der demographischen Alterspyramide
- wachsende Belastung durch Abgaben, Steuern, Überregulierung durch den Staat
- stagnierende oder sinkende Einkommen, Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen einiger weniger
- wachsende Verschuldung der Privathaushalte
- "big government" = unaufhaltsames und disproportionales Wachstum der Bürorkatie
- Desinteresse bzw. Widerstand in breiten Kreisen gg. neuen Technologien (z. B. Nano-, Gentechnologie)
- vielerorts alternde Infrastrastruktur (Strassen, Brücken, Gebäude s. USA/GB), abnehmende Qualität zahlreicher Güter
- relative Machtlosigkeit gg. dem Phänomen der Massenarbeitslosigkeit
- Von der Gesellschaft im Laufe des 20. Jahrhunderts durchgesetzte Mechanismen zur Lösung bestimmter Probleme (Sozialsysteme) haben eine Eigendynamik übernommen und sind inzwischen Teil des Problems (geringere Anreize zur Eigenverantwortung).

b) global
- allmähliches Abbremsen der gefürchteten "Bevölkerungsexplosion" deutet auf Ausschöpfung des technologischen Potentials hin. Dramatische Bevölkerungsrückgänge in Osteuropa. Überalterung Japans.
- Ausbleiben von bahnbrechenden Erfindungen mit Breitenwirkung, insbesondere auf dem Gebiet der Fortbewegung (z. B. Raumfahrt: Mondlandung von Apollo 11 liegt 40 Jahre zurück) und Energiegewinnung (z. B. Kernkraft: weiterer Ausbau im Westen sehr zäh, Deutschland gar für Ausstieg).
- wachsende Kluft zwischen den armen Ländern dieser Welt (insb. Afrika) und den reichen
- eine beträchtliche Zahl an Ländern, insbesondere in Afrika, zusehens aber auch im Nahen Osten und in Lateinamerika sind vom globalen Handel und Austausch weitgehend ausgeschlossen. Vorbei sind die Zeiten, da der Ir@k und Argentinien als Hoffnungsträger galten. Verschiedene Länder wie Russland, Nigeria und die Golfstaaten sind in unguter Weise von ihren Bodenschätzen abhängig.
- (gleichzeitig) zunehmende Verschuldung aller Länder, gerade auch des Westens
- zunehmende Entkoppelung des Geschehens an Kapital- und Finanzmärkten von der tatsächlichen wirtschaftlichen Wertschöpfung. Das Missverhältnis ist wesentlich grösser als etwa 1929.

Prognosen: Trotz beruhigender Zahlen von Wirtschaftsexperten flacht das tatsächliche Wachstum immer weiter ab. Die Krisen häufen sich an Zahl und nehmen an Schwere zu. Die zunehmende Verarmung wird immer sichtbarer, die Rentner der Zukunft werden in bitterer Armut leben, die Kriminilität (etwa Entführungen von Touristen) wird allgemein stark anwachsen. Der Westen wird seine wirtschaftliche Vormachtstellung trotz protektionistischer Massnahmen einbüssen. Die neuesten Handys werden nicht mehr bei uns zu kaufen sein. Die Städte Asiens werden bald jene in Europa und den USA an Grösse und grellem Glanz übertreffen. Die Impulse aus dem Fernen Osten müssen indessen sehr stark sein, um die Vermutung zu nähren, dass die Welt nur teilweise von einem Dunklen Zeitalter betroffen sein wird. Wenn in China oder Indien gewaltige architektonische Meisterleistungen entstehen, vergleichbar etwa mit den ägyptischen Pyramiden oder den gothischen Domen, wenn revolutionäre Produktionsverfahren Verbreitung finden, oder wenn aus Asien Menschen (oder Cyborgs) zum Rand des Sonnensystems aufbrechen, besteht Anlass zur Hoffnung, dass dies der Fall sein könnte. Realistischer scheint mir jedoch die Aussicht, dass sowohl der Vielvölkerstaat Indien wie China ebenfalls zentrifugalen Kräften ausgesetzt sein werden, mit den entsprechenden Folgen für ihre Entwicklung. Was diese Vermutung bestärkt: Zieht man eine Entwicklungslinie vom Alten Ägypten zu den USA, so könnte man eine immer kürzere Halbwertszeit der Weltreiche postulieren.

im Bereich der Normen und Werte: Verunsicherung und zunehmende gegenseitige Abgrenzung

a) gesellschaftsintern/Westen
- Relative Delegitimierung der gesellschaftlichen Institutionen Ehe und Familie. Hohe Scheidungsraten, staatlich alimentierte, alleinerziehende Teenager-Mütter, Atomisierung der Gesellschaft.
- Siegeszug von individualistischen, emanzipatorischen gg. konformistischen, verpflichtenden Wertvorstellungen (Beobachtung, keine Bewertung oder Aussagen über den Soll-Zustand!)
- Reichtum und Prestige ohne wirkliche Leistung gelten als akzeptabel.
- sinkendes Interesse für die Belange der Gemeinschaft zeigt sich u. a. in sinkender Wahlbeteiligung, schleichenden Abschaffung des Wehrdienst. Vereine und Parteien beklagen über Mitgliederschwund oder fehlende Bindung
- individualistisch geprägte Religiosität
- immer grössere Verunsicherung in der Frage was "richtig" oder "falsch" ist
- Infragestellung westlicher Lebensweise durch andere Kulturen
- abnehmende (finanzielle) Solidarität innerhalb der einzelnen Länder bis hin zu Sezessionsabsichten (Bsp. Flamen vs. Wallonen in Belgien, Ost vs. West-Deutschland, Nord-Süditalien, WhiteAngloSaxonProtestant-Staaten in den USA vs. Süden)

b) global
- trotz Weltsprache Englisch keine weitere sprachliche Konvergenz. Selbst die EU bleibt ein Raum mit zahlreichen Sprachen.
- zunehmende Infragestellung "westlicher Werte" ("soft power") angesichts der militärischen und ökonomischen Schwierigkeiten des Westens ("hard power")
- moderne Kommunikationsmittel scheinen in Richtung einer Segregation der Kulturen zu wirken als im Sinne einer besseren Verständigung und Annäherung (Kinder von Zuwanderer sehen Satelliten-TV aus der Heimat ihrer Eltern).
- überall Absinken der ästhetischen, moralischen und geistigen Standards infolge der Dominanz des kommerziell vermittelten Massengeschmacks
- Gesellschaftliche Probleme wie Drogenkonsum, hohe Scheidungs- und Suizidraten, Prostitution nicht nur im Westen ein Problem, sondern auch zunehmend in Ländern, in denen viele bei uns Mächte der Zukunft sehen (etwa Korea, Japan gewisse arabische Länder, von Russland als Spitzenreiter i. S. Alkoholismus u. Suizid bei Männern). Auch in Indien(!) hat kürzlich die S**arbeiterInnenlobby auf der Strasse demonstriert.

Prognosen: Die Vereinten Nationen sind je länger desto ineffektiver als Forum und Entscheidungsinstanz. Eines Tages werden sie der wachsenden Zwietracht vollens zum Opfer fallen. Im Westen werden sich in manchen Gebieten nicht zuletzt angesichts der veränderten demographischen, wirtschaftlichen und ethnischen Begebenheiten neue politische Entitäten herausbilden, die meist von vorübergehenden Charakter geprägt sind und teilweise brutal niedergeworfen werden. Generell wird das Misstrauen gegenüber Fremden wachsen, zumal eine gemeinsame kulturelle bzw. Wertebasis immer weniger vorausgesetzt werden kann. Dies gilt natürlich umso mehr in Zeiten grosser wirtschaftlicher Not und Unsicherheit.

Es sind zahlreiche Widersprüche, sie sind kausal miteinander verknüpft und sie verstärken sich inzwischen gegenseitig. Es geht nicht um eine schlechte Ernte oder um ein paar schlechte Kriminalitätsstatistiken sondern um langfristige Trends, welche die Fundamente, auf denen unsere hochdifferenzierten Gesellschaften ruhen, aushöhlen und letztlich eine gesellschaftliche Transformation bewirken. Sie sind in jedem Falle zu komplex, als dass sie durch politische Absichtserklärungen oder staatliche Regulierungsmassnahmen beseitigt werden können. Es geht mir nicht um Aussagen, wie etwas zu sein hat (diese Weltanschauung/Religion gg. jene; "links gg. rechts"; höhere oder tiefere Steuern, Feminismus vs. Maskulismus etc.) sondern um eine gesellschaftliche Diagnose über sehr lange historische Zeiträume hinweg. Die Folge der sich gegenwärtig zuspitzenden Abläufe wird schlussendlich, d. h. innerhalb der nächsten 50-100 Jahre, ein abrupter Zusammenbruch der Lebenswelt wie wir sie kennen, und schliesslich, nach mehreren Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten von Chaos eine gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Neuordnung sein.

Freue mich über eine angeregte Diskussion.


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