Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Zum Thema ein informatives Interview:

Student(t), Tuesday, 26.02.2008, 17:54 (vor 6508 Tagen) @ Student(t)

Siehe Spiegel:

"Wir brauchen eine neue Kultur des Aufwachsens"

Kontroverse Debatte über die richtige Erziehung: Werden Kinder zu Seelenkrüppeln, wenn sie in die Kita kommen? Völlig falsch, sagt Experte Wolfgang Tietze im Interview mit SPIEGEL ONLINE - und erklärt, warum Betreuung durch die Mutter keineswegs das natürliche Lebensmodell ist.


SPIEGEL ONLINE: Herr Tietze, schadet es Kindern, wenn sie eine Krippe besuchen?

Tietze: Nein, im Gegenteil: In der Regel nützt es ihnen sogar, wenn die Qualität der Betreuung stimmt. Aus Studien wissen wir, dass bei Kindern schon ab dem zweiten Lebensjahr die soziale Kompetenz, die Sprachentwicklung und andere kognitive Fähigkeiten insgesamt in der Kita mehr gefördert werden als in jedem anderen Arrangement.

SPIEGEL ONLINE: In der Krippe sind die unter Dreijährigen also besser aufgehoben als bei der Mutter?

Tietze: Wir glauben immer, die Betreuung durch die Mutter in den heiligen vier Wänden sei das natürliche Lebensmodell. Dabei haben wir Menschen Zehntausende von Jahren in großen Gruppen gelebt. Dort hat jeder Betreuungsaufgaben übernommen. Evolutionspsychologisch gesehen ist die Mehrpersonenbetreuung natürlicher als die exklusive Betreuung durch die Mutter im bürgerlichen Familienmodell.

SPIEGEL ONLINE: Jetzt gehen Sie ans Eingemachte. Ist die Bindung zur Mutter fürs Kind nicht das wichtigste, gerade in den ersten Lebensjahren?


Tietze: Die Bindung zur Mutter ist enorm wichtig, gar keine Frage. Wir wissen aber, dass die zeitweilige Betreuung des Kindes durch andere eine sichere Bindung zur Mutter nicht beeinträchtigen muss. Das belegen heute alle Studien. Schon an der Fragestellung sieht man jedoch, wie selbst in der Wissenschaft dieses traditionelle Mutterbild dominiert. Man tut immer so, als würden durch den Kita-Besuch erstmals andere Bezugspersonen als die Mutter ins Leben des Kindes treten. Dabei sieht die Realität ja ganz anders aus. Normalerweise hat ein Kind Bindungen zu mehreren Personen, es gibt ja meist auch noch den Vater, die Großeltern oder Geschwister.

SPIEGEL ONLINE: Wenn sie für unter Dreijährige praktisch der natürliche Lebensraum ist - warum ist die Krippe dann in Deutschland so umstritten?

Tietze: Das hat sicherlich mit einer tiefen kulturellen Verankerung des bürgerlichen Familienmodells zu tun, das vor rund 250 Jahren entstand. "Der Mann muss hinaus ... und drinnen waltet die zücht’ge Hausfrau, die Mutter der Kinder", heißt es bei Schiller. Dieses Modell wurde zwar die meiste Zeit über nur von einer Minderheit gelebt. Aber die deutsche Familienpolitik hat über Jahrzehnte alles getan, um an diesem Modell festzuhalten: Ehegattensplitting, drei Jahre Erziehungsurlaub praktisch nur für die Mütter, Knappheit an Kita-Plätzen in Zahl und Öffnungszeiten - all diese Maßnahmen liefen faktisch darauf hinaus, Familien auf einen bestimmten Lebensentwurf festzulegen. Das kann nicht Aufgabe staatlicher Politik sein.

SPIEGEL ONLINE: Aber wer sein Leben in dieser Tradition gelebt hat, sieht sich nun von den Krippenbefürwortern angegriffen?

Tietze: Ja. Wenn man plötzlich das Gefühl vermittelt bekommt, man sei von gestern, berührt das das Selbstverständnis. Auf der anderen Seite haben sich die Familienverhältnisse augenscheinlich geändert. Die meisten Frauen wollen arbeiten, viele müssen auch - denken Sie nur an die steigenden Scheidungsraten, die wachsende Zahl der Alleinerziehenden und die unsicheren Arbeitsplätze von Vätern. Eine Gesellschaft sollte ihre politische Kraft nicht damit vergeuden, mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit etwas festhalten zu wollen, was für die meisten Familien keine Perspektive ist.

SPIEGEL ONLINE: Die Zwangsverkrippung ab dem ersten Geburtstag wäre zeitgemäßer?

Tietze: Völliger Unsinn. Niemand will kleine Kinder in öffentliche Einrichtungen zwingen, wie Bischof Mixa und andere Konservative gerne unterstellen. Es geht darum, dass Familien ihre individuellen Lebensentwürfe tatsächlich gestalten können und dass das Kindeswohl gesichert wird.

SPIEGEL ONLINE: In Westdeutschland gibt es nur für acht Prozent der unter Dreijährigen Betreuungsplätze ...

Tietze: ... und das bedeutet, dass viele Eltern bislang eben keine Wahlfreiheit haben.

SPIEGEL ONLINE: Um das zu ändern, hat die Große Koalition die Verdreifachung der Krippenplätze bis zum Jahr 2013 beschlossen, insgesamt sind dafür 12 Milliarden Euro vorgesehen.

Tietze: Ich halte diese Summe für problematisch.

SPIEGEL ONLINE: Warum?

Tietze: Man hat dabei einfach nur gegenwärtige Betreuungskosten hochgerechnet. Das heißt also, die zukünftigen Plätze werden, wenn überhaupt, nur dieselbe Qualität haben wie die jetzigen.

SPIEGEL ONLINE: Und diese Qualität reicht nicht aus?

Tietze: Nein, da müsste schon heute vieles verbessert werden. Zum Beispiel bei der Qualifizierung des Personals und beim Personalschlüssel. Je kleiner die Kinder sind, desto intensiver muss die Betreuung sein - bei Ein- bis Zweijährigen sollten höchstens fünf Kinder auf eine Erzieherin kommen. Es geht nicht nur um Versorgung, sondern um Förderung, individuelle Zuwendung, emotionale Sicherheit für Kinder. Einfach nur Kindergartengruppen für unter Dreijährige zu öffnen, wie es teilweise geschieht, ist billiger, aber der falsche Weg.

SPIEGEL ONLINE: Und was ist mit Tagesmüttern? Da liegt der Schlüssel in der Regel doch günstiger.

Tietze: Tagesmütter können für junge Kinder eine Chance sein. Hinsichtlich der Betreuungsqualität gibt es aber eine unglaubliche Streubreite. Es gibt fantastische Tagesmütter, die den Kindern hervorragende Anregungen bieten und oft sogar mehr Geduld aufbringen als die Eltern selbst. Aber das Tagesmüttersystem ist weitgehend unreguliert. Deshalb kennen wir auch genügend Beispiele am anderen Ende.

SPIEGEL ONLINE: Woran denken Sie?

Tietze: Manche Tagesmütter reden überhaupt nicht mit den Kindern, obwohl die Sprachentwicklung schon im Säuglingsalter beginnt. Oder sie achten in ihrer Wohnung zu wenig auf Hygiene: Da leckt dann der Hund den Wasserkran ab, aus dem auch das Kind sein Trinkwasser bekommt. Manchmal stinken die Räume auch nach Rauch oder es fehlt an Bewegungsraum und an sicherem kindgerechten Mobiliar.

SPIEGEL ONLINE: Wie wollen Sie solche Zustände ändern?

Tietze: Es muss mehr über die Qualität diskutiert werden. Wir brauchen klare fachliche Standards nicht nur für die Tagespflege, sondern für alle Betreuungsmodelle. Und es muss eine verlässliche Überprüfung nach solchen Standards erfolgen. Diese gibt es bislang praktisch nicht. Ich sehe eine Möglichkeit der Qualitätssicherung in Form eines pädagogischen Gütesiegels für Tagesmütter wie für Kitas, damit Eltern ihre Kinder nicht in eine Black Box stecken müssen und damit Qualität transparent wird. Wohlfeile Sonntagsreden für Qualität haben wir genug. Wir brauchen systematische Qualitätsentwicklung und verlässliche Instrumente der Qualitätssicherung. Sonst verspielen wir die Bildungschancen unserer Kinder.

SPIEGEL ONLINE: Diese Forderungen haben sicherlich ihren Preis.

Tietze: Wir brauchen insgesamt mehr Geld für den Bereich der außerfamiliären Betreuung. Zurzeit fließen nur fünf Prozent der öffentlichen Ausgaben für Familien in die Kinderbetreuung. Daran kann man erkennen, wie wenig dieser ganze Sektor in Deutschland geachtet wird.

SPIEGEL ONLINE: Was ist mit der Qualifizierung des Betreuungspersonals?

Tietze: Auch die muss sich dringend verbessern. Gerade auf die unter Dreijährigen, um die es derzeit vor allem geht, sind viele durchaus engagierte Erzieherinnen schlecht vorbereitet. Aber finanziell gesehen haben sie ja auch nichts davon, sich zusätzlich zu qualifizieren. Das Gehalt bleibt, wie es ist, und Aufstiegschancen gibt es in diesem System kaum. Wo ist da der Anreiz? Bei Tagesmüttern ist es ähnlich: Sie sind so schlecht bezahlt, dass sie eigentlich mit einem Versorger verheiratet sein müssen. Der politisch gewollte Ausbau der Tagespflege wird deshalb auch nur gelingen, wenn es zu einer existenzsichernden Bezahlung von Tagesmüttern kommt. Egal wie wir es drehen und wenden: Pädagogische Qualität in Kitas und in der Kindertagespflege werden wir flächendeckend nur erreichen, wenn wir sie mit einem Anreiz verbinden.

SPIEGEL ONLINE: Welche Rolle spielt beim Thema Kinderbetreuung die gesellschaftliche Akzeptanz?

Tietze: Wenn ich weiß, dass die Gesellschaft mein Lebensmodell anerkennt, mich und mein Leben unterstützt und ich mich nicht rechtfertigen muss, dann herrscht auch für das Aufwachsen der Kinder ein anderes Klima. Und wenn die Eltern bei der Betreuung ihres Kindes ein gutes Gefühl haben können, weil die Qualität geprüft und transparent ist, dann wirkt sich das auch positiv aufs Kind aus. Wir brauchen eine solche neue Kultur des Aufwachsens.

Das Interview führte Merlind Theile

Sexismus-Kritik


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