Re: Sigusch in "Neosexualitäten"
Als Antwort auf: Re: Sigusch in "Neosexualitäten" von susu am 28. Mai 2005 03:06:52:
Hi susu,
dachte mir, dass du darauf einsteigst. 
Ich rezensiere den Sigusch gerade für eine Szene-Zeitschrift. Die Rohfassung meiner Kritik hab ich unten mal beigefügt. Ich hab den Text aber noch nicht überarbeitet, insbesondere fehlt noch ein Schlussabsatz als Fazit. Den ergänze ich dann wohl morgen früh.
Während Siguschs "Sexuelle Störungen und ihre Behandlung" die Pathologisierung von genderqueeren Personen fortschreibt,
Das tut er? In diesem Buch zumindest kommt das nicht so zum Tragen. Aber ich hab das mal in meine Besprechung aufgenommen. Wird Sigusch unter Transsexuellen/Postgendern eigentlich intensiv diskutiert?
bezieht er gleichzeitig Stellung außerhalb des queer-akademischen Diskurses. Sigusch ist dabei in der Position als bekannter Sexualwissenschaftler sich formierende politische Konfigurationen als Pathologie oder Perversion zu betrachten, sein Umgang mit dem Thema ist durch eine Distanz bestimmt, die dadurch erzeugt wird, daß die eigene Verwobenheit mit Fragen des Geschlechts nicht hinterfragt wird (das ist nichts ungewöhnliches, aber durch seine herausgehobene Position in diesem Fall besonders verheerend).
Ja, die eigene Verwobenheit Siguschs hätte mich auch interessiert. Ich werde manchmal ein bisschen misstrauisch, wenn sich Leute hinter allzu gestelzter Phraseologie verbergen. Andererseits spricht man in gewissen Kreisen und nach intensiver Lektüre wohl so; die Butler und du selber, ihr seid für viele ja auch oft recht unzugänglich.
Um das an einem seiner Begriffe deutlich zu machen: Sigusch führt die "Zissexualität" ein, einen Begriff den er auf Hirschfelds "Cisvestiten" zurückführt. Nun gibt es ein Wort, daß seit ca. 30 Jahren verwendet wird und den gleichen Sachverhalt beschreibt: Cissexuell. Das Sigusch erklärt, er habe diesen Begriff quasi erfunden ("Ich gestatte mir hier einmal Zissexualismus' und Zissexuelle', ganz sachlogisch und sprachlich korrekt, einzuführen [..]" - aus "Geschlechtswechsel", Sigusch 92)
So spricht Sigusch in diesem Buch auch, wobei das allerdings zum Teil ohnehin eine Zusammenstellung älterer Texte zu sein scheint. So ein Neuaufguss, wie ihn auch Alice Schwarzer mit ihren Büchern manchmal macht.
Dass Sigusch genderqueer als Sexualität begreift, zeigt auch noch mal deutlich, daß er nichts verstanden hat.
Du meinst, er betrachtet das als sexuelle Erlebnisform wie meinethalben den Sadomasochismus, und in Wahrheit ist es eine Form von Identität?
( ) Deshalb, Sigusch wegwerfen und lieber mal Butlers "Undoing gender" lesen.
Ich hab mir gerade mal die Inhaltsangabe durchgelesen. Butler setzt sich mit Willa Cather auseinander? Hört sich spaßig an.
Sehr empfehlenswert, weil (für Butler) unglaublich poetisch geschrieben und konzeptionell up to date (vor allem ihre Überlegungen zu loss/transformation, kinship als Beziehungsmodell und die Gedanken zu Sex [undoing gender kam im selben Amazon Paket wie "der Kick im Kopf"
Wenn ich Sigusch bei Amazon verlinke, muss ich das natürlich auch mit dem "Kick im Kopf" tun, so Leid es mir tut. *hüstel* 
http://www.amazon.de/exec/obidos/ASIN/3896024558/qid%3D1117385074/302-4739094-7720835
und es gibt da Parallelen]).
Zwischen der Butler und meinem "Kick"? Erzähl mal! 
Herzliche Grüße
Arne
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der Rohentwurf meiner Rezension:
Volkmar Sigusch: Neosexualitäten. Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion. Paperback Campus 2005, 225 Seiten, ISBN: 3593377241, 24,90 Euro
Warum können sich Sexualforscher wie Kurt Starke und Gunter Schmidt eigentlich klar ausdrücken und Sigusch muss unbedingt brabbeln? Tatsächlich ist die Dichte auch wenig bekannter Fremdwörter (Dispersion, katexochen, Topoi, hylomorph
) in diesem Buch derart groß, dass sie nicht nur den Zugang zum eigentlich Gesagten verstellt. Dem Leser drängt sich auch ein bisschen der Verdacht auf, dass Sigusch hier bewusst auf dicke Hose macht, weil er in der Sache nicht so arg viel zu sagen hat. Handelt es sich vielleicht nur um "eleganten Unsinn", um mit Sokal und Bricmont zu sprechen?
Ganz so ist es erfreulicherweise nicht. Natürlich pflegt Sigusch die Pose und die grandiose Selbstinszenierung. (Ob er sich etwa zu Recht die Erfindung des Begriffes/Konzepts "Zissexualität" zuschreibt, gilt als sehr umstritten.) Bleibt man aber trotz dieses pompösen Getues am Text dran, statt gleich zu vermuten, dass der Kaiser keine Kleider trage, stößt man immerhin auf einige durchaus diskussionswürdige Thesen auch wenn sie manchmal mit der Geburtszange hervorgeholt werden müssen und von Sigusch lediglich angerissen werden. Häufig ranken sich um sexuelle Spielarten, die oft den Randbereichen zugeschrieben werden und die man früher als Perversionen bezeichnete: vom altvertrauten Sadomasochismus bis zu weniger bekannten Varianten wie Sitophilie, Shrimping und Zipper Sex. Dabei ist Sigusch zufolge die Perversion "das Positiv der Normalität" nicht deren Verdrehung und Verkehrung, sondern ihre Überhöhung und Steigerung ins Extreme: "Niemand hat das bisher zu schreiben gewagt: dass die Lust, die aus einer Perversion gezogen werden kann, einzigartig ist." Oft geht es Sigusch aber auch um die Entwicklung der Sexualität im allgemeinen.
Dass wir es momentan mit einer Kommerzialisierung und Banalisierung von Sex zu tun haben, der zu einem großen Teil auf Selbstinszenierung beruht, ist nun noch keine umwälzende Erkenntnis, sondern findet sich heute in jedem zweiten Kommentar zur Love Parade oder zum CSD. Kühner sind da schon Thesen wie die folgenden:
- In zwei oder drei Generationen würden wohl auch sodomistische Lebenspartnerschaften rechtlich und gesellschaftlich anerkannt werden, auch wenn man dafür wohl euphemistische Umschreibungen wie "tierliebende Beziehungen" oder "Mensch-Tier-Partnerschaften" wählen würde.
- Potenzmittel wie Viagra besäßen kein biochemisch ähnlich erfolgreich wirkendes Gegenstück für Frauen, da es in unserer Kultur keinen Signifikanten gebe, der dem Phallus an symbolischer Durchschlagskraft gleichgestellt sei.
- Je rasender bei Fällen von sexuellem Missbrauchs oder Sexualmords an Kindern das "Rübe ab!" ausfalle, desto deutlicher zeige sich das Verlangen, mit der individuellen Katastrophe die kollektive Katastrophe der Gewalt gegen Kinder in unserer Gesellschaft zu verdrängen: Stehe doch beispielsweise einem Hund hierzulande rechtlich mehr Wohnfläche zu als einem Kind. Und: "Pro Jahr sterben bei uns 1400 bis 1600 Kinder im Straßenverkehr, während vier bis sechs Kinder aus offenbar sexuellen Motiven getötet werden. In den Medien wird aber ein ganz anderes Bild erzeugt."
- Nachdem die Sexualität durch Enttabuisierung, Entmystifizierung, Komerzialisierung und permanenter öffentlicher Präsentation an sozialer Sprengkraft verloren hat, dürfte in Zukunft an ihre Stelle die Kraft der Gewalt treten, um noch den ersehnten Kick und Thrill zu erleben.
(
)
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- Sigusch in "Neosexualitäten" -
Arne Hoffmann,
28.05.2005, 02:08
- Re: Sigusch in "Neosexualitäten" -
susu,
28.05.2005, 06:06
- Re: Sigusch in "Neosexualitäten" -
Arne Hoffmann,
29.05.2005, 22:44
- Sigusch -
susu,
30.05.2005, 03:59
- Re: Sigusch - Arne Hoffmann, 30.05.2005, 13:17
- Sigusch -
susu,
30.05.2005, 03:59
- Re: Sigusch in "Neosexualitäten" -
Arne Hoffmann,
29.05.2005, 22:44
- Re: Sigusch in "Neosexualitäten" -
susu,
28.05.2005, 06:06