Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Fahrenheit 68

Scipio Africanus, St.Gallen, Saturday, 16.09.2006, 17:17 (vor 6454 Tagen) @ susu

Privat leitet sich vom lateinischen "privatus" ( einer einzelnen Person
gehörend ) ab, im Gegensatz zur öffentlichen Angelegenheit, der "Res
publica".
Indem propagiert wird, das Private sei politisch ( polis; die
Gemeinschaft,politika; öffentliche Geschäfte ) wird es zur öffentlichen
Angelegenheit, zum öffentlichen Geschäft.


Die Frage ist, in welche Richtung den Vergleich ließt. Auf diesem Forum
finde ich z.B. einen Beitrag der den Titel "Abtreibung ist Mord" hat. Das
soll heißen: "jemand der abtreibt mordet damit". Soll wohl nicht heißen:
"Jemand der Mordet treibt damit ab". Du interpretierst den Satz als eine
Aufforderung das private durch die institutionalisierte (!) Politik
gestalen zu lassen.

Franz ist Gärtner heisst ja wohl nicht, dass alle Gärtner Franz heissen. Also ich lese das von links nach rechts. :)

Das läßt sich im Kontext der Zeit nicht nachvollziehen, schließlich wurde der Slogan von Leuten geprägt, die sich gegen Gesetze stemmten, die in die Privatsspähre eingriffen (der §180 stellte es unter Strafe, wenn Eltern es tolerierten, daß ihre Kinder, wenn sie noch nicht 18 waren Sex hatten, der §182 Verbot jegliche Schriften, die Schilderungen geschlechtlicher Vorgänge beinhalteten, der §175 verbot konsensuellen Geschlechtsverkehr zwischen zwei Männern, etc. pp.). Der Teil des Strafrechts, der heute mit dem Schutz der sexuellen Selbstbestimmung befasst ist, war voll von "Verbrechen ohne Opfer", d.h. strafbaren Handlungen, die niemandem Schaden zufügten. Dieser Sachverhalt
wurde abgelehnt und allein deshalb halte ich deine Lesart für nicht
passend.

Deine Beispiele legen den Schluss nahe, dass sich die 68-er generell für die Beschränkung der Staatsmacht und den Schutz der Privatsphäre des Bürgers einsetzten. Dem ist jedoch nicht so. Die 68-er zeichneten sich schon immer durch eine ausgeprägt inkonsistente und in sich widersprüchliche Haltung aus.

Um ein Beispiel zu nennen : So forderten sie vehement die Entnazifizierung und eine tiefgehende Aufarbeitung der jüngeren, totalitären deutschen Geschichte. Gleichzeitig schwenkten sie das rote Büchlein von Mao Tse Tung, dem Massenmörder, der wahrscheinlich sogar mehr Menschenleben auf dem Gewissen hat als das Monstrum Hitler. Einen Widerspruch konnten sie darin nicht erkennen, und bis heute genügen sie ihren eigenen Ansprüchen nicht. Wo bleibt hier die Aufarbeitung ? Es wäre jetzt mal an der Zeit, dass die Fischers und Konsorten ihre eigenen Verfehlungen aufarbeiten, so wie sie es, selbstgerecht und verblendet, von ihren eigenen Vätern gefordert haben.

In der damaligen Zeit um 1968 waren die 68-er eine ausserparlamentarische Opposition, bevor sie den Gang durch die Institutionen antraten. Daher ist ihre damalige oppositionelle Haltung gegenüber der Staatsmacht logisch. Heute jedoch sind die 68-er etabliert und zu einer Stütze der herrschenden Ordnung geworden. Deshalb neigen sie auch dazu, die Staatsmacht auszudehnen, denn sie haben ihre wesentlichen Ziele erreicht. Um ihre Besitzstände zu wahren, sind sie dem Etatismus verfallen.


Im Gegenzug halte ich die umgekehrte lesart für passend,
politische Veränderungen beruhen auf Veränderungen im Privaten. De fakto
muß sich die institutionalisierte Politik den Entscheidungen, die
Individuen treffen anpassen. Anders gesagt: Nicht die Gemeinschaft hat
über den Einzelnen zu bestimmen, sondern die Einzelnen bilden die
Gemeinschaft. Um diese Prinzip mal hier am Forum aufzuhängen: Ob es Odin
oder Michael sind, die an Private Erfahrungen politische Forderungen
knüpfen, es ist ein Prinzip aus den Individuellen Erfahrungen heraus in
Opposition zur aktuellen Rechtlage zu stehen. Und ich würde diverse
Personen hier nennen, die schlicht und ergreifend dadurch das sie nicht
mainstreamkompatible Lebensentwürfe haben (Ekki z.B.) wirken.


Heute werden aber politische Entscheidungen im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Leitbilder getroffen. Diese Leitbilder sind eben oft nicht repräsentativ für das Leben der Bürger, sondern die Politik versucht, durch normative Gesetzgebung gesellschaftspolitische Leitbilder zu verwirklichen, die auch und wesenlich das Private betreffen.
Diese Tendenz ist die Konsequenz aus dem Anspruch, alles eine öffentliche Angelegenheit werden zu lassen.

Es ist eben gerade nicht so, wie du behauptest. Der Staat und ihre Repräsentanten, und hier vor allem und zuerst die durch 68-er Verwerfungen geprägten Repräsentanten, versuchen das Private, insbesondere auch das Geschlechterverhältnis, zu gestalten. Gerade bei der Debatte um Eva Herman und ihrem Buch wird dieser Widerspruch deutlich, dass nämlich die propagierten Leitbilder keineswegs so unangefochten das Ideal der Menschen darstellen, wie das immer wieder behauptet wird.

Konkret heisst das an diesem Beispiel, dass die als Ideal propagierte, erfolgreich berufstätige Mutter nicht überall als erstrebenswert betrachtet wird. Gemäss deiner Theorie müssten die Linken die konservative Auffassung respektieren und als private Entscheidung schützen. Doch was geschieht ? Konservative Lebensmodelle werden als rektionär und ewiggestrig diffamiert. Die 68-er "respektieren" das Private genau so lange als privat, wie es ihren Vorstellungen entspricht. Reine Taktik.

Ihre Liberalität ist im Kern immer noch die stalinistische. Eine Kalaschnikov an die Schläfe und die Forderung : Los, liberalisiert euch.
Ihre gesellschaftspolitischen Zielvorstellungen sind in der Regel liberal, wie beispielsweise die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften mit der Ehe. Die angewandten Mittel, um die politschen Ziele zu erreichen oder das Erreichte zu erhalten, die sind ausgeprägt autoritär. Liberal ist nach meinem Verständnis aber nur, wer sowohl in seinen Zielen wie auch in seinen Mitteln liberal denkt und handelt.

Es gibt im deutschsprachigen Raum keine nennenswerte linksliberale Kraft.

Nein. In letzter Konsequenz heist es, daß es keinen öffentlichen Bereich
mehr geben soll. Siehe auch Anarchie. Eine funktionierende Anarchie ist
zwar reine Utopie, weil Menschen nun mal bescheuert sind und die 68er
waren in dieser Hinsicht kurzsichig (Deshalb gab es später Punk), aber
wenn du tatsächlich glaubst, es sei um einen autoritären Zugriff auf die
Persönlichkeitsrechte gegangen, dann empfehle ich dir dich noch mal
eingehend damit zu beschäftigen, oder dir mal eine Platte der Band zu
besorgen, die Claudia Roth als Roadie hatte. "Keine Macht für Niemand".

susu

Keine Macht für Niemand ? Wie sagte doch Odysseus zum Zyklopen, als der ihn nach seinem Namen fragte : Mein Name ist Niemand. Und als er ihm des Auge ausgestochen hatte, rief er die anderen Zyklopen um Hilfe. Sie fragten ihn : Wer hat dir ein Leid getan ? Worauf der Zyklop unter Schmerzen schrie : Niemand hat mir ein Leid getan.

So ist es auch mit den 68-ern. Sie haben die Republik verändert, so sagen sie. Spricht man sie auf Missstände an, dann zerfranst die Disskussion augenblicklich. Die 68-er sind keine homogene Gruppe, waren so verschieden u.s.w.

Wer ist verantwortlich ? Niemand. Oder die Anderen. Wer hat Macht ? Niemand. Vorname : Claudia. Oder Joschka, oder wie auch immer.

Gruss Scipio


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