Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

Archiv 2 - 21.05.2006 - 25.10.2012

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Warum wir keine Gemeinsamkeit finden

Salvatore Ventura @, Berlin, Friday, 20.10.2006, 17:55 (vor 6988 Tagen) @ Ekki

Hallo Ekki,

Hier sind die beiden Texte, der link funktioniert nicht mehr, aber ich hatte sie gespeichert. Besonders der zweite Text ist interessant. Die Beobachtung ist zumindest für die angesprochene Personengruppe nicht falsch. Merkwürdig nur, dass sich jemand darüber wundert, dass es so gekommen ist. Wenn sich Nils Minkmar fragt, warum sich besagte Männer weder für die Gesellschaft, noch für ihre Karriere, geschweige denn für Beziehungen und Familie engagieren wollen, muss man nur fragen: Warum sollten sie?

Ciao
Salvatore


Die neuen Berliner Jungs sind entspannt, relaxt und männlich. Toll. Oder?
Zum Fußball versammeln sich Männer samt ihrer Männlichkeit traditionell gerne im Licht der Öffentlichkeit. Sie kommen dann allerorten aus den Häusern an die Oberfläche, um mit anderen Männern eine Gemeinschaft zu bilden. Allerdings waren sie in Berlin dabei nicht mehr unter sich. Fußball galt ja immer als eine klassische Bastion der Männer und das erste Stadionerlebnis, weiß auch Sportsoziologe Gunter Gebauer, hat sich im Leben der meisten Jungs unvergesslich als ein intensives Erlebnis männlicher Gemeinschaft in die Erinnerung eingebrannt. Und jetzt das: Wo man bei dieser WM auch hinkam, saßen, jubelten und fachsimpelten die Frauen mit. Interessanterweise störte das aber die Berliner Männer wenig ? im Gegenteil. Egal ob im Lido in Kreuzberg, im Trailerpark in der Linienstraße, in der türkischen Kneipe in Neukölln oder im Bierzelt des Praters, die Berliner Männer, die bei ihrer typisch männlichen Tätigkeit, dem Fußballgucken, herumsaßen, waren eher konzentriert als klassisch männlich aggressiv, sie waren eher auskunftsbereit als ausgrenzend. Sie jubelten, aber sie pöbelten nicht herum oder rülpsten einen wie früher aus dem Raum. Zudem wurden Frauen nur sehr selten durch dusseliges Abfragen der Abseitsregel getestet. Die Berliner Männer fielen also vor allem dadurch auf, dass sie trotz des Fußballs angenehm blieben. Sie waren mit sich und der Welt irgendwie beeindruckend entspannt.

Der Mann, ein Problem?

Überraschend eigentlich, gelten doch Männer dieser Tage allerorten als Problemfall. Im Feuilleton gibt es eine regelrechte Männerdebatte. ?Was ist nur mit den Männern los?? fragte sich zuerst groß die ?FAZ?, ?Was ist männlich?? titelte kurze Zeit darauf ?Die Zeit? und zuletzt versuchte auch das Magazin ?Neon?, den modernen Mann zu definieren. Denn den Männern, so der allgemeine Tenor, ist ihre Männerrolle abhanden gekommen. Schlimmer noch, in den Medien wird die Gattung am laufenden Band herunter gemacht: Ihr, liebe Männer, seid schlechter ausgebildet als Frauen und kommt in der Schule nicht mit. Der Großteil der Straftäter vom Kleinkriminellen bis zum Intensivtäter ist männlichen Geschlechts. Außerdem, so liest man, stottert Ihr viermal so häufig wie Eure Schwestern. Wir schließen: Die Zeiten, in denen Frauen als das schwächere Geschlecht angesehen wurden, sind vorbei. Redet keiner mehr davon. Weibliche Softskills sind gefragt, das klassische Nerdtum des Mannes erschließen dagegen die Medien als neues Problem, denn schon gewusst: Autismus ist nichts anderes als eine extreme Form von Männlichkeit, das haben Hirnforscher kürzlich entdeckt. Aber macht Euch nichts daraus, so was geht vorbei. Wir Frauen mussten uns auch jahrelang über die Krankheit Hysterie definieren lassen, während wir heute allenfalls noch als zickig bezeichnet werden. Was ist also dran an der Debatte? Wie schlimm ist die männliche Identitätskrise wirklich? Ist der Mann tatsächlich der neue Verlierer? Und wie begegnen die Berliner Männer diesem Problem?

Ging man in den letzten Wochen durch diese Stadt, in die Restaurants, Bars und tauchte dann noch später am Abend in die Clubs, spazierte man tagsüber über Märkte, Spielplätze, lugte in eine der vielen Public-Viewing-Ecken oder ruhte sich während der Sommerhitze in den Biergärten aus, fiel einem erstmal eines auf: Berliner Männer sehen trotz Krise nicht unglücklich aus. Eher ganz gut eigentlich. Das ist nicht verwunderlich, schließlich ist in den letzten Jahren viel stupider Unsinn verschwunden, den man als männliches Geschlecht bedienen musste. Gottseidank steht Männlichkeit heute nicht mehr für Härte, Aggression und stumpfes Durchsetzungsvermögen, und deshalb muss sie auch nicht mehr abgelehnt und in ihr Gegenteil eines lahmen Latzhosen-Softies verkehrt werden. Sie ist einfach erstmal da.

In Berlin zeigt sie sich in leicht trainierten Muskeln, die sich sexy unter den schmalen Polohemden spannen. Sie wird mit dem immer noch hippen Vollbart liebevoll spielerisch zitiert. Und die an lange Hundeleinen gelegten, dicken Schlüsselbunde, die vornehmlich von jungen Männern getragen werden, signalisieren auch, im Leben seinen Mann zu stehen, Besitz zu haben oder, heute ja eh wichtiger, Zugang. Alles in allem wird in Berlin mit Männlichkeit auffallend gelassen umgegangen, ein Trend, der sich übrigens schon seit einiger Zeit an der Variation neuer Hemdfarben abzeichnete: Zunächst wagte man ein schwulennahes Rosa, ging dann zu einem feministischen Dunkellila über und trägt aktuell ein pastellfarbenes Mintgrün, das Strenesse auch dem damaligen Bundestrainerteam Klinsmann & Löw zum Argentinienspiel auf den Leib schneiderte. Wenn Männermode sich nicht mehr mit klassischen Farben (mittelblau) ihrer Männlichkeit zu versichern braucht, heißt das auch, dass Männer sich nicht mehr von sich selbst überzeugen müssen. Sie haben sich mit sich angefreundet. Genau deshalb wird männliche Souveränität auch nicht mehr durch lautstarkes Durchsetzungsvermögen demonstriert. Anschreien, Herumgrölen, Aggression, das ist nur noch was für unsichere Teenager ? oder für die Playstation. Der Machismo ist nicht nur out, sondern tot. Der souveräne Mann heute ist ruhig, entspannt und lässig. Relaxt. Und Berliner Jungs sind bei dieser neuen Männlichkeit so was wie die Vorreiter.

Die Kehrseite

Mann-Sein, das sieht also heute, 2006, ganz gut aus ? zumindest in Berlin. Doch halt, erstmal ganz langsam. Denn alle, die sich gerade gemütlich zurücklehnen wollten, haben sich leider zu früh gefreut. Vermehrt beobachtet man ? auch in Berlin ? eine Kehrseite dieser neuen entspannten Männlichkeit. Männer wollen keine Karriere mehr machen. Sie wollen keine Familie gründen. Kurz, sie weigern sich, zu Stützen dieser Gesellschaft zu werden. Nils Minkmar, der vor ein paar Monaten mit seinem Artikel ?Was ist nur mit den Männern los?? in der ?Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung? die Männer-Debatte eröffnet hatte, bringt im Gespräch seine Kritik an dieser Lässigkeit noch einmal auf den Punkt: ?Den Männern genügt es, vor sich hinzuspielen. Früher oder später fallen bei meinen Geschlechtsgenossen dann die Ausdrücke ?kürzer treten? oder ?sich nicht verrückt machen lassen?. Schon in der Schule sind wir, Jahre vor dem Abitur, immer wieder vor dem Leistungsdruck der Gesellschaft gewarnt worden.? Das Ergebnis ist der Mann, der nichts mehr will. Er will keine Karriere machen. Auch kein Kind, denn er will sich nicht festlegen lassen und seine berufliche Situation, meint er, ist ja auch nicht so sicher. Vielleicht will er auch etwas anderes finden, es läuft nicht so gut. Und überhaupt, ist das wirklich die perfekte Beziehung, sollte er nicht weiter suchen? Minkmar ist von seinen Geschlechtsgenossen genervt. Und er hat Recht. Sich den gesellschaftlichen Ansprüchen zu entziehen, das ist nicht mehr cool. Die Dinge haben sich verändert.

Früher kam die Gesellschaft mit ihren Ansprüchen auf einen zu und suggerierte einem, einem bestimmten normativen Entwurf entsprechen zu müssen: Ausbildung, Karriere, Heirat, Kinder, Eigenheim. Sich diesem Anspruch zu entziehen und ihm eigene, alternative Formen entgegen zu setzen, bedeutete immer auch, so was wie ?Widerstand? zu leisten. Heute dagegen hält einem die Gesellschaft jene alten Normen vor, die sie jahrelang verordnete. In Zeiten der Globalisierung geht es überall auf und ab, deshalb sollen jetzt alle selbstbestimmt, eigenverantwortlich und flexibel leben. Der Rückzug in irgendwelche Nischen ist damit aber kein Ausnahmemodell mehr, sondern Alltag, und der Aufenthalt in diesen Nischen wird mitunter sogar zu einer rein bequemlichen Angelegenheit: Man gaukelt sich einen selbstbestimmten Lebensentwurf vor, scheut aber im Grunde die Auseinandersetzung. Und weil in Berlin das Leben bekanntermaßen so unschlagbar günstig ist, geht das mit dem Rückzug hier besonders gut. Die niedrigen Lebenskosten dieser Stadt verschleiern die neue Härte der Flexibilität. Doch wenn man sich selbstständig von einem Projekt zum anderen hangelt, zieht man sich heute nicht mehr gegen die Gesellschaft, sondern vor der Gesellschaft zurück ? und selbstbestimmt ist das dann nicht. Im Gegenteil, man scheut, für irgendetwas einzustehen. Zu kämpfen. Genau das tut man heute viel mehr, wenn man darum ringt, im Leben anzukommen. Was doppelt schwer ist, denn immer noch wird Karrieremachen als spießig verurteilt. Dabei diskreditiert der blöde Spruch ?Leistung muss sich wieder lohnen? den Begriff vollkommen zu unrecht. Leistung lohnt sich ja nicht nur, weil man dann eventuell mehr verdient, sondern weil man sich selbst herausfordert und einbringt ? und dadurch etwas verändert.

Doch viele Männer, so hat Minkmar beobachtet, weichen genau dem aus. Sie ziehen ihre Selbstbestätigung lieber aus Spezialkompetenzen. Das beginnt bei detailliertestem Fußballwissen, reicht quer über Eisenbahnkursbücher bis hin in die Untiefen von Popmusiksammlungen. Karl May. Star-Trek-Klingonisch. Avantgarde-Literatur. You name it. Auch in den Berliner Hip-Vierteln kann man genau das bei vielen Männern beobachten. Wie kommt das? Warum ziehen sich Männer in überflüssige Wissensbestände vor der Gesellschaft zurück?

Tatsächlich gibt es auch ein paar nachvollziehbare Gründe dafür, wenn Männer immer weniger darin Bestätigung suchen, dass sie es zu etwas gebracht haben, sondern sich lieber durch die Beherrschung eines Spezialgebietes beweisen. Denn dieser Rückzug von der Gesellschaft ist auch ein Ringen um die eigene Souveränität. Eine Gesellschaft, die ihre Teilnehmer von der Schulbank an mit Flexibilisierung und Arbeitslosigkeit bedroht, braucht sich nicht zu wundern, wenn diese im Gegenzug beschließen, die Pause dann einzulegen, wann es ihnen selbst passt. Damit könnte man die derzeitige Entwicklung zum Teil auch ganz anders deuten: Männer wären dann gerade dabei, sich jene Rolle zu erobern, die Frauen schon immer zur Verfügung stand: Nicht mehr Karriere machen zu müssen.

Die neuen Intensivväter

Eine Art umgekehrter Emanzipation scheint auf dem Weg und sie ist auch ein Ankommen der männlichen Rolle in der Realität. Schon immer haben die meisten Männer, seien wir ehrlich, keine Karriere gemacht, sondern einfach nur gearbeitet ? und jetzt bröckelt qua Flexibilisierung die männliche Rolle als Alleinverdiener der Familie weiter. Vielleicht ist auch deshalb neben der Karriere die Kleinfamilie immer weniger das Ziel international aufgeschlossener männlicher Großstadtbewohner. Männer wollen keine Kinder, wissen wir alle, haben wir schon von Euch zu hören bekommen oder es zumindest irgendwo gelesen. Das stimmt. Gottseidank ist damit aber nicht alles gesagt.

Von den vielen Berliner Vätern in meinem engeren Bekanntenkreis beispielsweise hat zwar keiner ein Kind gewollt. Keiner hatte den vorsätzlichen Plan, eine Familie zu gründen. Als das Kleine allerdings kam, verhielten sich alle bewundernswert verantwortungsvoll. Sie teilen sich die Sorge um das Kind mit der Mutter, sie holen es nicht nur aus der Kita ab, sondern gehen mit ihm danach auch auf den langweiligen Spielplatz oder bleiben bei anstrengend vollgequengelten Krankheitstagen geduldig zu Hause. All das ganz im Gegensatz zu ihren eigenen Vätern, welche erst Kinder wollten, aber im Anschluss möglichst wenig konkrete Verantwortung für sie übernahmen ? sie wechselten Windeln höchstens ausnahmsweise und das auch nur, wenn sie nicht stanken. Heute ist das anders. Die neuen Männer wollen keine Kinder, aber sie sind dann, wenn es passiert, Intensivväter statt Intensivtäter ? zumindest in Berlin.

Möglich macht das allerdings auch die besondere Situation der Stadt und ihre niedrigen Lebenskosten. Sie erlauben Männern nicht nur, vor dem Ernst des Lebens zu flüchten, sondern auch, in anderen Lagen des Lebens weniger arbeiten zu müssen. Denn machen wir uns nichts vor, es ist nach wie vor so: Eine vollbeschäftigte Person kann an fünf konzentrierten Tagen der Woche einfach mehr Geld verdienen als zwei Personen je an zwei. Und das kann oder aber auch muss sich woanders noch keiner leisten. Tatsächlich kommen einem die wochentags männerleeren Innenstädte Westdeutschlands zwar unglaublich antiquiert vor, zugleich wird an ihnen aber auch deutlich, dass wir hier in Berlin eine Ausnahme leben. Mit bedenklichen, aber auch mit guten Seiten. Denn dass Männer im Leben von Kleinkindern nicht stattfinden ist vor allem ein westdeutsches Problem.

Wenn die neue männliche Entspanntheit in Berlin also besonders deutlich ist, wenn hier intensiver als im Rest des Landes eine neue Männlichkeit gelebt wird, dann hat die wie so viele Dinge im Leben zwei Seiten. Einerseits ist sie angenehm, etwas Besonderes, fast schon eine Leistung: die Eroberung einer neuen Rolle. Andererseits besteht die Gefahr, sich mit seiner neuen männlichen Entspanntheit selbstzufrieden, aber eben nicht selbstbestimmt, in puschelige Nischen zurückzuziehen. Klar ist so oder so: Wir fahren hier in Berlin noch ein bundesdeutsches Ausnahmemodell. Vielleicht werden wir dabei eine Ausnahme bleiben. Vielleicht sind die Berliner Jungs mit ihrer neuen männlichen Entspanntheit aber auch so was wie der Vorreiter der Nation. Und wenn man sich dann noch mal das alte Rollenmodell vor Augen führt, dann denkt man letztendlich schon: Eigentlich wäre das zu hoffen.
Mercedes Bunz 20.07.2006 | 16:02 Uhr kommentieren


Psychologie
Was ist nur mit den Männern los?
Von Nils Minkmar

02. April 2006 Japan kennt eine Krankheit, die fast nur Männer ab zwanzig befällt: Irgendwann bleiben sie in ihrem Zimmer, monate- und jahrelang. Sie verlassen es, wenn überhaupt, nur nachts, um sich mit den nötigsten Lebensmitteln zu versorgen, und bezahlen mit Geld, das ihnen die Eltern unter der Tür durchschieben. Ihr Kontakt zur Außenwelt ist durch die Bildschirme von Fernseher und Computer gefiltert. Man nennt sie die Hikikomori - die Zurückgezogenen. Zwischen 100.000 und 320.000 Männer sollen betroffen sein. Psychiater können ein Bündel von Ursachen benennen, aber es bleibt eine rätselhafte und neuartige Krankheit.

In Deutschland ist diese Krankheit unbekannt. Als Metapher allerdings drängt sie sich auf, wenn man der Frage nachgeht, wo eigentlich hierzulande die gutausgebildeten weißen Männer zwischen dreißig und vierzig sind, die sogenannten Stützen der Gesellschaft. Man muß genau hinsehen, denn sie beherrschen die Kunst, in der Umgebung zu verschwinden. Es hilft, dieser Gruppe selbst anzugehören: dann erkennt man einander.
Die sogenannten Stützen der Gesellschaft
Einiges erfährt man durch Feldstudien: wenn man eine Gruppe von mittelalten Männern beobachtet, die es gerade in den öffentlichen Raum hinausgeweht hat, beispielsweise in einen ICE-Großraumwagen. Während Rentner umständlich ihr Gepäck sortieren, Kinder toben und Touristen forschen, ob es der richtige Zug sei, sitzen sie längst - denn sie sind Auskenner, haben immer einen reservierten Sitzplatz oder beherrschen virtuos die Kunst der stummen Suche nach dem letzten freien Platz - und tauchen, ohne einen Mucks, ein in ihre persönliche, digitale Welt. Der Sitz daneben bleibt oft leer, vor allem wenn man einen professionell wirkenden Rucksack daraufpackt. Die soziokulturell bedingte Hemmung, einen erwachsenen, unfreundlich und konzentriert vor sich hin werkelnden Mann zu unterbrechen, ist immer noch beträchtlich.
Das verhindert, daß man mal prüft, was da so wichtig eingetippt wird. In der ersten Klasse, kurz vor Frankfurt, saß einmal einer, der optisch in jede McKinsey-Abordnung gepaßt hätte. Um die Vierzig, dreiteiliger dunkler Anzug, randlose Brille. Mit höchster Konzentration kümmerte er sich um das Geschehen auf seinem Think Pad. Er ließ sich auch davon nicht beirren, daß der Zug gerade auf offener Strecke stehengeblieben war und alle übrigen Mitreisenden aufgeregt umherschnatterten. Unser Mann hatte zu tun: Die Dampflok seines PC-Spiels kämpfte sich gerade durch den Schwarzwald, er mußte Kohlenverbrauch und Kesseldruck überwachen.
Ein sozialpsychologisches Klischee
Wenn so ein Zug mal stehenbleibt, ist es für uns Männer eigentlich nie ein Problem: kurze Anrufe, Blick ins Netz nach Alternativverbindungen, irgendwie geht es immer weiter; und wenn nicht - die Rechen- und Unterhaltungsmaschine hat genügend Kapazität, um einen stundenlang mit Musik und Filmen zu versorgen. Einen allein. Es ist ein sozialpsychologisches Klischee, aber es ist noch nie widerlegt worden: Wenn es etwas zu besprechen gibt, Auskünfte einzuholen und weiterzugeben sind, etwas in eine andere Sprache zu übersetzen ist oder eine Reaktion auf eine ungewöhnliche mikrosoziale Situation erforderlich wird, die im weitesten Sinne damit zu tun hat, wie sich Personen im selben Raum zueinander verhalten, dann sind es Frauen, die den Job machen. Männer machen sich unsichtbar, im Großraumwagen wie im ganzen Land.
Natürlich ist das nicht schlimm, dieses Vor-sich-hin-Spielen und bloß selektive und punktuelle Bemühen um Exzellenz. Es ist, wie man dann immer sagt, ?nichts dabei?. Aber ?nichts dabei? ist zuwenig. Zuwenig für das Land und zuwenig für die sozialhistorischen Ausgangsbedingungen.
Männer, die ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik geboren wurden, gehören zu einer der privilegiertesten sozialen Gruppen, die je auf diesem Planeten gelebt haben. Es sind in der überwiegenden Mehrheit Wunschkinder. An keinem einzigen Tag der fast vier Jahrzehnte ihres Lebens gab es weniger als drei Mahlzeiten. Die medizinische Versorgung war vom ersten Tag an die beste. Viele haben nicht einen einzigen Tag Uniform getragen. Bildung wurde ernst genommen, stets perfektioniert und reformiert. Aber was ist dabei herausgekommen?
Jede Menge Eigensinn
Erst einmal jede Menge Eigensinn. Unglaubliches Wissen und Spezialkompetenzen auf unterschiedlichsten Feldern, von den Lebensläufen der obskursten Mitglieder der abseitigsten Bands bis zur perfekten Beherrschung der Star-Trek-Kunstsprache Klingonisch. Karl May vorwärts und rückwärts, sämtliche Kursbücher der europäischen Staatsbahnen, die malayischen Börsenkurse - was sich nur messen, speichern, auflisten läßt, wird in den stets wachsenden Riesenspeicher passiven Wissens des deutschen mittelalten Mannes aufgenommen. Es ist ein Leben voll Studium und Muße, angefüllt mit der ewigen gralsritterhaften Suche nach der perfekten Beziehung, der ewigen Optimierung des Selbst, dem besseren Leben.
Hinter den Laptops sitzen keine Karrieristen. Bei fast jedem Gespräch mit meinen Alters- und Geschlechtsgenossen fallen früher oder später die Ausdrücke ?Sabbatical?, ?kürzer treten?, ?sich nicht verrückt machen lassen?. Schon in der Schule sind wir, Jahre vor dem Abitur, immer wieder davor gewarnt worden, uns von ?Leistungsdruck? krank machen zu lassen. Eine gelassenere soziale Gruppe hat es wohl selten geben.
Die Sorge um sich in neuer Blütezeit
Diese Gelassenheit wurde freilich nicht durch den mehr oder minder funktionierenden Sozialstaat verursacht. Keiner hatte große Lust, von der Sozialhilfe zu leben. Und das war ja auch keine realistische Gefahr: Westdeutsche Männer um die Vierzig mit guter Ausbildung haben ein deutlich geringeres Risiko, arbeitslos zu werden. Sie sorgen schon für sich, und mehr noch: Die von Foucault beschriebene Sorge um sich erfuhr eine neue Blütezeit. Aber darauf beschränkten sich die Ambitionen auch schon. Die Energie, die bestehenden Verhältnisse neu zu denken und zu transzendieren, fehlt gerade bei denen, die am besten dafür vorbereitet wurden, sie aufzubringen.
Ist es nicht merkwürdig, daß sich jeder Vierzigjährige an ein halbes Dutzend Technikfreaks in der Klasse erinnert, an den fiebrigen Eifer, mit dem sie die jeweils neuen Taschenrechner programmierten, neueste Computer ausprobierten und am Nachmittag selber schraubten und probierten? Das war vor über zwei Jahrzehnten. Zwei Jahrzehnte intensiver Beschäftigung mit Chips und Kisten, aber warum gibt es kein deutsches Ebay, kein Apple, kein Google, keinen einzigen deutschen PC-Hersteller mehr und nur noch eine einzige große Softwarefirma?
Fataler Hang zum ?schicksallosen Alltag?
Der Sozialpsychologe Stephan Grünewald hat für das von ihm begründetete Rheingold-Institut mehr als 20. 000 Interviews geführt. In seinem eben erschienenen Buch ?Deutschland auf der Couch? kommt er auch auf die deutschen Männer zu sprechen. Er stellt dort einen fatalen Hang zum ?schicksallosen Alltag? fest, also die Weigerung davor, die mitunter schmerzvollen Konsequenzen großer Entscheidungen zu ertragen, Krisen-und Entwicklungsprozesse durchzustehen. Die charakteristischste Redewendung der Männer, die er nach ihrem Selbstverständnis befragt hat, sei: ?Ja, aber . . .?
Das muß, so könnte man diesen Befund kommentieren, nicht schlecht sein. Ein Zeugnis entwickelten Problembewußtseins, das dazu einlädt, alle möglichen Konsequenzen jedweder Entscheidung immer wieder zu durchdenken. Denn nicht nur Gesundheit, Ausbildung und Wohlstand sind auf einem welthistorischen Höchststand, auch die moralische Ausstattung ist tipptopp. Nie waren Männer so wenig militant, kriegslüstern, rassistisch oder sexistisch eingestellt. Keiner würde auf die Idee kommen, Polen oder Frankreich anzugreifen oder Gewalt für ein Mittel der Auseinandersetzung zu halten.
Frauen stärker ?im analogen Lebensvollzug?
Auf der Ebene der abstrakten Kompetenzen - moralische Urteilskraft, schieres Wissen, Planungs- und Organisationskapazität -, hier gibt es Bestnoten. Aber die Fähigkeit zur Übersetzung des passiven Wissens in aktiven Gebrauch ist verkümmert.
Frauen, die nicht weniger denken, schreibt Grünewald, stehen stärker ?im analogen Lebensvollzug? - ein euphemisierender Begriff für Kloputzen, Kochen und Familientaxispielen. Aber es trifft den Kern. Deutsche Männer entwickeln sich zu Hikikomori im Zwischenraum der Überlegungen.
Vernünftiger Common sense
Es wäre schön, wenn es andere Felder gäbe, auf denen die Leidenschaft, die Besessenheit, der Fleiß sich Bahn brechen würden. Aber bei Gesprächen über die Liebe - es nennt sich natürlich ?Beziehung? - fallen die gleichen relativierenden und zaghaften Sätze wie zum Thema Beruf und Karriere. Die Regel ist das Abwarten. Man muß nicht Demographie studieren, um zu ahnen, daß solche Männer die sofortige Gründung einer Großfamilie nicht als ihr erstes Lebensziel nennen werden. So ist es auch bei Diskussionen über die politische Lage. Es herrscht ein vernünftiger Common sense, eine hohe Informiertheit auch über Detailaspekte. Aber eben auch dieselbe Gelassenheit.
Vertreter dieser sozialen Gruppe in der Bundespolitik reizen ja auch nicht eben zu Leidenschaftssausbrüchen: Wer würde für den vierzigjährigen Hans Martin Bury demonstrieren, wer ihn als Gefahr für unser Land verteufeln? Es ist ja eh egal. Der einstige Shooting Star der SPD ist längst wieder geworden, wonach er immer aussah: ein Banker. Motto: Mal was anderes machen.
Aufgelöst wie Aspirin in Wasser
Warum ist das alles so? Fragte man die Gemeinten, würden sie schnell mit plausiblen Argumenten kommen: die überbeschützenden Mütter. Die Lehren aus Faschismus und Kaltem Krieg, also die Abscheu vor den zackigen und markigen Männerbildern von einst. Das negative Vorbild von Männern, die von ihrer Karriere aufgefressen wurden. Die Emanzipation, Zuwanderung, der Fall der Mauer haben in den letzten Jahrzehnten die Dramatik der historischen Entwicklung bestimmt, Männer wurden an die Wand gespielt. Jetzt fühlen sie sich dort wohl - solange eine Steckdose in der Nähe ist.
Vielleicht waren die Zustände auch einfach so optimal, daß an ihre Veränderung nicht im Traum gedacht wurde. Das war allerdings leichtsinnig, denn damit es so bleibt, muß es sich ändern. Frei nach Willy Brandts letzter Rede: Wer auf der Höhe der Zeit sein will, muß sich neue Antworten einfallen lassen. Das waghalsige Denken, das nötig ist, um die Gegebenheiten von Gesellschaft, Wissenschaft und Politik zu transzendieren, ist eindeutig zu kurz gekommen. Die soziale Gruppe, die die Gesellschaft eigentlich tragen und befördern soll, hat sich in ihr aufgelöst wie Aspirin in Leitungswasser.

Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 02.04.2006, Nr. 13 / Seite 25


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