Re: OT: Arbeitslose
Als Antwort auf: Re: OT: Arbeitslose von Doc am 10. Dezember 2002 13:52:15:
Hallo Doc!
Hm, es ist keineswegs so, daß ich deinen Ausführungen nicht zustimme. Eigentlich finde ich alles, was du geschrieben hast, durchaus richtig. Einige Aspekte fehlen mir jedoch noch.
Ein wesentlicher Grund, wieso Arbeit und Arbeitslose häufig nicht oder erst nach zu langer Zeit zueinander finden, besteht ja auch darin, daß so manche Unternehmen zwar immer wieder freie Stellen anbieten und sich lauthals darüber beklagen, daß sie kein Personal finden würden, dabei aber wohlweislich verschweigen, daß sie nur Hungerlöhne zu zahlen bereit sind, die die Lebenshaltungskosten kaum oder nicht decken.
Meine Verlobte ist gelernte Groß- und Außenhandelskauffrau und hat mal in einem Bewerbungsgespräch erlebt, daß ihr ein Gehalt angeboten wurde, bei dem sie etwa 1000 DM netto herausbekommen hätte. Nun könnte man ja einwenden, daß das doch immer noch besser wäre als arbeitslos zu sein. Ja, aber wir zahlen ja allein an Miete schon monatlich deutlich mehr. Und wir haben kein Luxus-Penthouse, sondern eine ganz normale Wohnung. Die Miete dafür ist noch nichtmal überhöht, denn die Eltern meiner Verlobten zahlen etwa dasselbe, obwohl ihre Wohnung 30 Jahre älter ist als unsere.
Natürlich kann man theoretisch darüber reden, die Löhne und Gehälter zu senken, um so mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Dann muß dabei aber auch von vorneherein klar sein, daß das nur geht, wenn auch die Lebenshaltungskosten entsprechend sinken. Erfahrungsgemäß tun sie das aber von allein entweder gar nicht oder aber sinken weit weniger ab als die Einkommen.
Trotzdem sind heute schon immer mehr Menschen bereit, auch schlechte Arbeit gegen geringe Bezahlung zu erledigen. Mein Bruder ist auch gerade arbeitslos. Vor einigen Monaten hat er mal ausnahmsweise eine Einladung für ein Bewerbungsgespräch bekommen. Die Firma suchte ca. 10 Leute und eingeladen hatten sie 60. Sie boten 3 Euro pro Stunde. Einen Job mit so niedriger Bezahlung kann sich niemand leisten, der zur Miete wohnt und eine Familie zu ernähren hat. Mein Bruder wohnt allerdings noch bei meinen Eltern, also war es für ihn akzeptabel. Trotzdem hat er die Stelle nicht bekommen. Die Konkurrenz war immer noch zu groß.
Und genau das ist auch der Grund, wieso die Wirtschaft und damit auch die Politik die Arbeitslosigkeit gar nicht wirklich senken will.
Ich wäre auch dafür, die Leistungen für Arbeitslose deutlich zu kürzen. Es gibt definitiv genügend Leute, die sich auf Kosten der Gesellschaft einen schönen Lenz machen. Andererseits gibt es aber eben auch viele Arbeitslose, die wirklich verzweifelt Arbeit suchen, aber auch nach monatelanger oder sogar jahrelanger Suche nichts finden. In manchen ostdeutschen Gegenden liegt die Arbeitslosenquote um die 50%!
Um sicherzugehen, daß man damit wirklich nur die Gammler trifft, kann man also Sozialleistungen erst kürzen, wenn es keine unfreiwilligen Langzeitarbeitslosen mehr gibt. Wenn also genügend Arbeitsplätze vorhanden sind. Das ist momentan definitiv nicht der Fall, aus welchen Gründen auch immer.
Außerdem muß man da noch etwas berücksichigen: Arbeitslosengeld ist KEINE Sozialleistung, sondern eine Versicherungsleistung, für die Beiträge gezahlt werden! Es handelt sich dabei also um KEINE milde Gabe an Arbeitslose, sondern um eine Leistung, die ihnen zusteht, da sie sie mit ihren Beitragszahlungen erarbeitet haben. Und zwar in voller Höhe. Denn der sogenannte "Arbeitgeberanteil" wird selbstverständlich auch von den Beschäftigten des jeweiligen Unternehmens mit erarbeitet und ist somit also de facto ein versteckter Teil des Lohnes oder Gehaltes.
So nebenbei erwähnt bedeutet letzteres übrigens auch, daß Senkungen dieses "Arbeitgeberanteils" tatsächlich Kürzungen des Realeinkommens von Arbeitern und Angestellten zugunsten der Unternehmensgewinne darstellen. Und daß beispielsweise die Riester-Rente bei gleichzeitiger Senkung des Rentenniveaus eine Entlastung der Unternehmen auf Kosten der Arbeiter und Angestellten darstellt. Denn Letztere bekommen einerseits dafür keinen "Arbeitgeberanteil", müssen andererseits die zusätzlichen Beitragszahlungen aber ohne wirklichen Ausgleich von ihrem offiziellen Lohn oder Gehalt leisten. Die staatliche Förderung macht den Kohl nämlich auch nicht mehr fett, und obendrein kriegt man sie später de facto auch noch wieder durch Steuern abgezogen.
Du hast noch das Problem Ausbildung angesprochen. In Deutschland haben wir die Situation, daß man sogar als Fensterputzer eine offizielle Ausbildung machen muß. Natürlich kann man so einen Job auch ohne Facharbeiterbrief machen - aber dann gibt's in der Regel weniger Geld für die gleiche Arbeit.
Wenn man also einigermaßen anständig bezahlt werden möchte, muß man in Deutschland eine Ausbildung machen. Das ist aber auch nicht mehr so einfach wie in früheren Zeiten. In den 50er/60er Jahren soll es noch so gewesen sein, daß die Unternehmen Schüler in den höheren Klassen anschrieben und höflich fragten, ob sie es nicht eventuell in Betracht ziehen würden, bei ihnen eine Ausbildung zu absolvieren. Das ist längst vorbei. Zwar schreien die Unternehmen lauthals nach hochqualifiziertem Personal, aber ausbilden sollen das dann bitteschön andere. Der ideale Stellenbewerber ist ja ohnehin etwa 25, hat 30 Jahre Berufserfahrung und natürlich das exakt passende Zeugnis oder Diplom...
Es gibt heute zwar durchaus viele Firmen, die immer wieder jede Menge Ausbildungsstellen anbieten. Da geht es aber oftmals eher darum, billige Arbeitskräfte und obendrein noch staatliche Fördermittel zu bekommen (die übrigens für Mädchen höher sind als für Jungen). Und was nützt eine Ausbildung, wenn man danach wieder arbeitslos ist und kaum Chancen auf einen festen Job hat?
Diese staatlichen Fördermittel werden dann obendrein auch nur für Jugendliche bis 19 gezahlt. Somit hat man im Alter von 20 aufwärts nochmal deutlich geringere Chancen, noch eine Ausbildungsstelle zu finden.
Von den deutschen Arbeitslosen wird immer mehr Flexibilität verlangt. Da wird dann häufig auf Länder wie die USA verwiesen, wo die Menschen eher bereit sind, auch mal den Beruf zu wechseln, wenn sie in ihrem Beruf keine Arbeit finden. Übersehen wird dabei gern, daß es in den USA eben kein so starres Ausbildungssystem mit uralten Zunftregeln aus dem Mittelalter gibt wie in Deutschland. Daß da nicht für jeden Putz-Job gleich ein Facharbeiterzeugnis verlangt wird, sondern daß da eben mehr zählt, welche Berufserfahrung man wirklich bisher gesammelt hat und wie man in den Unternehmen beurteilt wurde, in denen man vorher gearbeitet hat.
Es müßte in Deutschland möglich sein, daß jemand, der einige Zeit in einem Beruf tätig war, auch ohne jahrelange Ausbildung Facharbeiterstatus erlangen kann. Dann könnten es sich nämlich auch in Deutschland Arbeitslose leisten, den Beruf zu wechseln. Momenten ist das de facto nur möglich, wenn man das Glück hat, eine Umschulung übers Arbeitsamt machen zu können. Ansonsten riskiert man nicht nur Einkommenseinbußen, da man außerhalb des erlernten Berufes grundsätzlich nur als Hilfskraft eingestuft wird, sondern darüber hinaus noch eine Entwertung der eigenen offiziellen Qualifikation. Je länger man nämlich aus einem erlernten Beruf raus ist, umso geringer wird das Zeugnis oder Diplom bei Bewerbungen eingeschätzt. Das allein zwingt in Deutschland schon jeden Arbeitslosen dazu, auf einen Job in seinem Beruf zu bestehen und andere Angebote abzulehnen.
Und dann haben wir noch das Problem der zunehmenden Automatisierung. Vor einigen Jahren gaukelte uns Kohl noch bei jeder Gelegenheit die vielen neuen Jobs im Dienstleistungssektor vor, die es angeblich bald geben würde und die dann die aufgrund des steigenden Einsatzes von Computern, Robotern und anderen Maschinen in zunehmendem Maße verschwindenden Jobs im produktiven Bereich ausgleichen würden. Auch diese neuen Jobs wird es nicht geben. Einige Beispiele:
Kundenbetreuung per Telefon wird zunehmend mit Maschinen erledigt. Spracherkennungs-Software wird diesen Trend noch weiter verstärken.
Es sind bereits vollautomatische Kassensysteme entwickelt worden. Da geht man mit dem Einkaufswagen durch eine Scan-Schranke und bezahlt an einem Automaten. In den Supermärkten der Zukunft wird also im Kassenbereich maximal noch ein Wachmann benötigt, der darauf aufpaßt, daß niemand mit einem Einkaufskorb verschwindet, ohne zu bezahlen.
Im Ruhrgebiet sollen bereits vollautomatische Transportsysteme getestet werden. Die funktionieren wie ein Rohrpostsystem. Es sind also unterirdische Tunnel, in denen Transportcontainer automatisch fahren. Solche Systeme werden zunächst in Großstädten und nach und nach vielleicht sogar flächendeckend Transportaufgaben übernehmen und so menschliche Boten überflüssig machen. Zunächst nur für größere Unternehmen, dann für mittlere und kleinere Firmen und irgendwann auch mal für Haushalte...
Wir bewegen uns langsam aber sich auf den Punkt zu, wo menschliche Arbeitskraft nicht mehr zwingend benötigt wird. Das ist erstmal eine positive Entwicklung, das Problem besteht nur darin, daß unser Gesellschaftsystem nicht darauf ausgerichtet ist, sondern darauf, daß jeder Mensch für seinen Lebensunterhalt arbeiten muß.
Wir werden also auf lange Sicht gesehen nicht umhin kommen, die Gesellschaft grundlegend zu ändern. Leider läuft der bisherige Kurs der Regierungen in den Industriestaaten aber nicht dorthin, sondern man versucht, das System möglichst zu konservieren. Das wird zwangsläufig zum Chaos führen, denn je mehr Menschen weder in der Wirtschaft noch sonstwo benötigt werden, umso schwieriger wird es, die zunehmende Zahl der Erwerbslosen sozial abzusichern. Früher oder später wird das ganz und gar unmöglich werden, aber die Menschen, die dann so abserviert werden, werden sich nicht unter die nächste Brücke setzen und dort einfach verhungern. Die werden sich dann zunehmend mit Gewalt holen, was ihnen vorenthalten wird.
Es wird also einen enormen Anstieg der Kriminalität geben, und davor wird man sich langfristig nur einigermaßen schützen können, indem man die Produktionsstätten und die Wohnungen der Menschen, die noch ein geregeltes Einkommen haben, in bewachte Wohnsiedlungen verlagert. In den USA gibt es solche Siedlungen bereits.
Letztendlich wird das darauf hinauslaufen, daß es wieder Stadtstaaten geben wird, wie in der Antike. Diese Stadtstaaten werden Inseln des Wohlstandes in einem Meer des Chaos sein. Und allesamt früher oder später untergehen.
Das kann man nur vermeiden, wenn man es wieder schafft, Vollbeschäftigung zu realisieren. Wie du schon richtig geschrieben hast, müssen Arbeitslose beschäftigt werden. Es ist immer die Rede davon, daß kein Geld für Kultur oder für soziale Projekte da wäre. Wieso sollten Arbeitslose sich nicht auf diesen Gebieten betätigen?
Und wieso kann der Staat nicht, anstelle hunderte Millionen Euro an Fördermitteln in ein marodes Unternehmen zu pumpen, das dann ohnehin pleite geht, dieses Unternehmen komplett oder zumindest anteilmäßig übernehmen und dafür sorgen, daß es vernünftig saniert und somit erhalten wird? Die Theorie, daß Staatsbetriebe ineffizienter wären als private Unternehmen, ist falsch. Denn gerade große Unternehmen werden heute fast nur noch von Managern geleitet, und denen sollte es egal sein, ob sie von privaten Investoren oder vom Staat bezahlt werden.
Es geht doch eigentlich gar nicht wirklich um Arbeitsplätze, sondern um Erwerbsmöglichkeiten. Das ist im Interesse aller, also sehr wohl auch im Interesse der Wirtschaft. Dort interessiert man sich aber mehr für den sofortigen Maximal-Reibach als dafür, unsere Gesellschaft tauglich für die Zukunft zu machen. Und sägt damit emsig weiter an dem Ast, auf dem wir alle sitzen.
Freundliche Grüße
von Garfield
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- OT: Arbeitslose -
Markus,
09.12.2002, 01:48
- Re: OT: Arbeitslose -
Manfred,
09.12.2002, 11:42
- Zustimmung!(n/t) - Jens, 09.12.2002, 17:08
- Re: OT: Arbeitslose - Markus, 09.12.2002, 19:33
- Re: OT: Arbeitslose -
Doc,
10.12.2002, 15:52
- Re: OT: Arbeitslose - Garfield, 20.12.2002, 19:51
- Re: OT: Arbeitslose -
Manfred,
09.12.2002, 11:42