Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Warum?

Maesi @, Friday, 01.09.2006, 01:00 (vor 7037 Tagen) @ Cleohasi

Hallo Cleohasi

Praetorius: Der gängige Wirtschaftsliberalismus ist eine säkularisierte
Theologie. Die Idee von einer unsichtbaren ordnenden Hand ist nichts
anderes als die Säkularisierung göttlicher Allmacht: Mir ist schleierhaft,
wie man das mit Freiheit zusammenbringen kann. Denn Freiheit setzt ja
voraus, dass ich entscheiden kann. Warum also soll ich blind einem
Mechanismus vertrauen?

Wieso hat die einen an der Waffel?

Nehmen wir die oben von Dir zitierte Passage. In dieser fasst sie Wirtschaftsliberalismus (wahrscheinlich meint sie damit wohl eher die Marktwirtschaft) als eine saekularisierte Theologie auf. Dahinter sieht sie eine unsichtbare, ordnende Hand, die sie als Ausdruck einer goettlichen Allmacht deutet, bei deren Anwesenheit wiederum angeblich die individuelle Freiheit fehlt. In Tat und Wahrheit ist 'Wirtschaftsliberalismus' ein selbstorganisierendes System, in dem Marktteilnehmer durch ihr Mitwirken Einfluss nehmen und sich durch die Summe des Mitwirkens automatisch ein Gleichgewicht bildet. Mit marktwirtschaftlichen Theorien kann man das Verhalten der Marktteilnehmer sowie die Preisbildung beschreiben. Allerdings handelt es sich dabei um rein statistische Theorien, d.h. die Gesetze der Marktwirtschaft koennen lediglich auf eine groessere Zahl von Individuen angewendet werden; sobald man sie jedoch auf eine kleine nicht repraesentative Gruppe oder gar ein einziges konkretes Individuum bezieht, verlieren diese Gesetze ihre Gueltigkeit. Somit kann keineswegs durch die Existenz marktwirtschaftlicher Gesetze auf eine Unfreiheit des Individuums geschlossen werden. Die Freiheit des Individuums besteht ja gerade darin, dass es sich nicht bloss gegen sondern auch fuer eine marktwirtschaftliche Handlungsweise entscheiden kann. Die Frage ist also nicht, ob das einzelne Individuum 'blind einem Mechnismus vertrauen soll' sondern, ob statistisch gesehen eine Mehrheit von ihnen das tut oder nicht.

Marktwirtschaftliche Theorien versuchen nicht, die gesamte Welt aus diesem einen Punkt heraus zu erklaeren. Wer diesen Theorien eine (goettliche) Allmacht unterstellt, um diese Allmacht natuerlich sofort genuesslich wieder zu demontieren, der demontiert nicht die Theorien an sich sondern lediglich die eigenen unzutreffenden Allmachtsunterstellungen - nicht gerade schlau, eine solches Vorgehen. Keine Wissenschaft kann die gesamte Welt aus einem Blickwinkel heraus vollstaendig erklaeren, und das Transzendente schon gleich gar nicht. Man kann an das Transzendente glauben oder eben auch nicht; Raum genug fuer diesen Glauben wird es neben der Wissenschaft immer geben, da sogar alle Wissenschaften zusammengenommen nie alles werden erklaeren koennen, und es auch gar nicht wollen.

Voellig abstrus wird's, wenn Frau Praetorius anfaengt vom 'Patriarchat', von 'postpatriarchalischer Ethik' zu fabulieren. Einmal mehr ist nicht klar, was sie eigentlich darunter versteht; ausser, dass es offenbar irgendeine obskure Herrschaftsform sein muss, die heute existiert. Nichtsdestotrotz versichert sie, dass das 'Patriarchat' bruechig und abgewirtschaftet sei. Es ist eine Binsenweisheit, dass jede von Menschen geschaffene Ordnung, jede Kultur irgendwann auch wieder untergeht; die Menschheitsgeschichte ist voll von untergegangenen Kulturen, Staats- und Gesellschaftsordnungen. Trotzdem scheint das 'Patriarchat' bislang jede untergegangene Kultur und Gesellschaftordnung irgendwie ueberlebt zu haben, wenn man den Feministen glauben will. Wenn das so ist, inwiefern gibt es dann Anzeichen, dass das 'Patriarchat' ausgerechnet heute bruechig ist und in naher Zukunft untergehen wird? Muss man nicht umgekehrt annehmen, dass die Transformation nicht zu einer 'postpatriarchalischen' Gesellschaft hin stattfindet sondern die 'patriarchalischen' Strukturen derart flexibel sind, dass sie solche gesellschaftlichen Transformationen zulassen ohne an den grundlegenden Strukturen etwas zu aendern? So gesehen waere es eine aeusserst beeindruckende Leistung des 'Patriarchats', dass es sich ueber alle zeitlichen, geographischen und kulturellen Barrieren hinweg halten konnte. Wie auch immer: ohne serioese, allgemein akzeptierte Definition von 'Patriarchat' kann man das nicht sinnvoll diskutieren. Und selbst wenn es eine solche Definition gaebe, muesste man dann noch belegen, dass heute eine Umgestaltung der Welt zum 'Postpatriarchat' hin stattfaende. Angesichts der eher kontinuierlich verlaufenden politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen duerfte das zumindest im westlichen Kulturbereich ziemlich schwer fallen. Aber wenn ich das Interview mit Frau Praetorius so lese, scheint sie sich ohnehin eher mit ihren abstrakten Gedankenkonstruktionen zu befassen, anstatt gelegentlich mal die Realitaet zu konsultieren.


Gruss

Maesi


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