Odessa sehen und sterben - und andere Dinge
Hallo Holger
Es ist immer wieder ein Genuss, Deine Postings zu lesen. Vielleicht solltest Du mal Deine Memoiren schreiben. Hast Du schon mal daran gedacht?
Du erlaubst mir sentimentales Schwärmen- Odessa ist für mich etwas
Besonderes: le charme discret de la bourgoisie. Nachdem die einmalige Oper
nach vielen Jahren Renovierung jetzt endlich fertig wurde, habe ich sie im
schönen Mai gleich besucht- mein Urgroßonkel war da Kapellmeister und kurz
Operndirektor, bis ihn die Roten 1917 abholten.In der Belle Epoque war
Odessa eines der kulturellen Zentren dieser Welt, nachvollziehbar noch
heute an den mondänen Fassaden- der morbide Charme ist immer noch da. Meine
Eltern haben es mir eingeprägt- das Wort 'Odessa', das sie ehrfürchtig
aussprachen, voller Sehnsucht. Sogar eine australische Boy- Group hat
dereinst in den frühen Siebzigern mit einem Doppel- Album es verstanden,
einen Hauch jenes einstmaligen Glanzes wehmütig in die Hirne der androgynen
Hippie- Hirne zu senken: es hieß "Odessa" und war monatelang Blockbuster in
den Hitparaden mit geradezu lyrischen Texten, die man den 'Bee Gees' nicht
zugetraut hätte.
Ich sehe, dass Du eine besondere Beziehung zu Odessa hegst. Ein Verwandter von Dir war in der Zarenzeit an der Oper Kapellmeister; da war er den Roten natuerlich hoechst suspekt und wurde folgerichtig von ihnen abgeholt. Ich war letzten Herbst das erste Mal dort. Der Zufall wollte es, dass wir justament an jenem Tag dort ankamen, als die Oper wiedereroeffnet wurde. Am Abend fand dann die Eroeffnungsgala statt; Zutritt natuerlich nur fuer geladene Gaeste. Aber vor der Oper tummelte sich das Volk. Die Renovierung hatte lange gedauert und jetzt wollte ganz Odessa die Oper in altem neuem Glanze sehen.
Ja, Odessa besitzt einen morbiden Charme. Nicht bloss die sukzessive wiederhergestellten mondaenen Gebaeude konterkarieren mit der Tristesse in den Aussenquartieren. Auch bei den Menschen zeigen sich eklatante Unterschiede. Die jungen Frauen, fast ausnahmslos in geschmackvollen teuren Klamotten gekleidet, heben sich von aelteren Leuten ab, die entweder noch in irgendeinem lausig bezahlten Job erwerbstaetig sind oder von der kaerglichen Rente (aufgebessert durch irgendwelchen halblegalen Kleinhandel) leben muessen. Am Sonntag abend im kleinen Park vor unserem Hotel fand ein Konzert statt; vier oder fuenf Musikanten spielten klassische Stuecke und Volksweisen. Dort fand man dann den ganzen Querschnitt der odessischen Gesellschaft. Junge gut gekleidete Singles; Familien, die sich in ihre beste Sonntagskluft geworfen hatten, die ihnen ihr kleiner Geldbeutel erlaubte; alte Maenner und Frauen, die den Grossteil ihres Leben im Sowjetstaat zugebracht hatten und die heutige, voellig gewandelte Welt nicht verstehen, niemals verstehen werden.
Im zerfallenden Reich des Zaren Jelzin habe ich die sterbende Schöne zum
ersten Mal liebkost in den schwülen Nächten des August, stand am Fuße der
potemkinschen Treppe, hinauf zu Puschkin, zum Platz des Alexander Uspenski,
umgarnt von jenen Schönen der fiebrigen Nacht, deren Anblick einen
wahnsinnig macht: niemals in meinem Leben habe ich so viele sprichwörtlich
atemberaubende Frauen gesehen wie da. Grüne Katzenaugen,kilometerlange
Beine, unfassbare Grandezza, mörderische Leidenschaft. Die Zitterpartie
hinterher mit HIV-, HPV- und TPHA- Test, einer hartnäckigen Salmonellose
und der ätzenden Krätze ist vergessen und dem Gloria auf die Schönen
gewichen, allerdings halte ich es heute mehr mit Odysseus, wenn ich in
Odessa bin und lasse mich solide am Schiffsmast vertäuen, wenn die
Sirenengesänge süß und unwiderstehlich im Ohr klingen.
Die sterbende Schoene ist am Wiederauferstehen wie Phoenix aus der Asche. Ich bin zuversichtlich: in einigen Jahren wird Odessa wieder einer jener Treffpunkte auf der Welt sein, wo sich der internationale Jet-set ein Stelldichein gibt. Mein Fall ist es dann allerdings nicht mehr. Das sterbende alte Odessa, das Du noch erlebt hast, kenne ich leider nicht mehr. Das neue Odessa ist die Zukunft. Aber laengst nicht alles ist schoen daran, zuviel Kitsch, zuviel schoene Fassade. Die altehrwuerdigen Gebaeude werden nun auch noch vom Raubtierkapitalismus missbraucht, nachdem sie schon die kommunistische Aera zu ueberstehen hatten, dort aber in ihrer einstigen Grandezza trotz zweckentfremdeter Nutzung wenigstens hervorragend konserviert wurden, wie eine Leiche in einem Moor.
Einem alten Mann ist es erlaubt- wenn ich spät abends auf der Terasse im
Hügelland der Magdeburger Börde in die Sterne sehe, träume ich oft von
Odessa...
Dem alten Manne sei es erlaubt, zu traeumen. Ihm sei es auch erlaubt, wenn er andere Prioritaeten setzt, als die Jagd nach sexueller Zerstreuung, auch wenn diese recht amuesant und noch immer sehr verlockend ist - insbesondere in Odessa.
Der alte weise Mann ist der Patriarch im besten und edelsten Wortsinne; nicht im Sinne der feministischen Ideologie, der es in niedertraechtiger Manier gelungen ist, den an sich positiven Begriff in den Dreck zu ziehen und mit all ihrer schmutzigen Phantasie zu kontaminieren. Nur noch wenige alte Maenner wehren sich gegen diese Niedertracht. Die 68er-Generation hingegen ist zwar an Jahren aelter aber nicht weiser geworden, stattdessen blueht bei deren Vertretern der Altersstarrsinn ungemein. Man moege sich das alternde Juengelchen Joschka Fischer oder die altjuengferlichen Feministen mal ansehen. Noch immer dieselben bornierten Zeitgenossen wie vor 40 Jahren. Sie glaubten damals, die gesamte Weisheit mit Loeffeln gefressen zu haben, was natuerlich schon immer ein Vorrecht der Jugend war; aber den 68ern ist das zweifelhafte Kunststueck gelungen, ihre jugendliche Selbstueberschaetzung und Beschraenktheit dauerhaft zu konservieren und ins Alter hinueberzuretten. Mit Wuerde alt zu werden, ist nur wenigen dieser Generation vergoennt. Ein tragisches Schicksal fuerwahr...
Gruss
Maesi
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Expatriate,
12.08.2008, 10:58
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roser parks,
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13.08.2008, 00:28
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13.08.2008, 13:28
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13.08.2008, 23:07
- Einige Betrachtungen zur Gesellschaft - Maesi, 17.08.2008, 13:17
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13.08.2008, 23:07
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