Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Geschichte des Wahlrechts auf wikipedia.de

Garfield, Monday, 02.01.2006, 18:43 (vor 7279 Tagen) @ stiller Mitleser ;-)

Als Antwort auf: Re: Geschichte des Wahlrechts auf wikipedia.de von stiller Mitleser ;-) am 01. Januar 2006 14:40:

Hallo Mitleser!

Ich denke, es hing sehr damit zusammen, daß bestimmte Pflichten eben auch nur für Männer galten (und teilweise heute immer noch nur für sie gelten). Man sah es eben so, daß ein Wahlrecht nur jemandem zusteht, der im Gegenzug auch entsprechende Verpflichtungen hat.

Ähnlich begründete man auch das Klassenwahlrecht bzw. in früheren Zeiten die Tatsache, daß das einfache Volk politisch gar nicht mitbestimmen konnte. Man sah es eben so, daß jemand, der Land besaß, somit auch ein Interesse daran hatte, dieses Land zu verteidigen und deshalb auch wehrpflichtig sein mußte. Wenn er aber wehrpflichtig war, dann war es logisch, daß er auch ein gewisses politisches Mitbestimmungsrecht hatte.

Das alles erschien so erst einmal logisch, ließ aber gewisse Fakten außen vor. Z.B. die Tatsache, daß Menschen ohne eigenes Land ja zu Zeiten der Leibeigenschaft oftmals nicht einfach so auswandern durften, wenn ihnen etwas im Land nicht gefiel. Überhaupt wurden viele Bauern ja erst durch die Wehrpflicht dazu gezwungen, ihr Land zu verkaufen, weil sie sich die immer weiter steigenden Kosten für die militärische Ausrüstung nicht mehr leisten konnten. Übersehen wurde auch gern die Tatsache, daß es in vielen Ländern für Reiche die Möglichkeit gab, sich von der Wehrpflicht freizukaufen und daß es dann letztendlich doch überwiegend Angehörige des einfachen Volkes waren, die im Krieg tatsächlich ihr Leben riskieren mußten - wenn sie Glück hatten, als Söldner, wenn sie Pech hatten, aber auch zwangsweise.

Was nun das Frauenwahlrecht angeht, so war es eben so, daß Frauen in den meisten Ländern tatsächlich niemals wehrpflichtig waren und daß sie auch oft nicht dazu verpflichtet waren, die Familien zu ernähren. Deshalb erschien es logisch, ihnen kein Wahlrecht zu geben. Die Mächtigen haben dem einfachen Volk ja ohnehin das Wahlrecht nur widerwillig zugestanden, und da nutzte man jede Gelegenheit, um dieses Wahlrecht einzuschränken. Daß es für die Reichstagswahlen schon vor 1918 ein vollwertiges Wahlrecht für alle Männer gab, resultierte vor allem daraus, daß viele Deutsche 1871 noch gar nicht national dachten. Das betraf auch viele Herrscher der deutschen Staaten. Selbst der preußische König ließ sich 1871 nur widerwillig von Bismarck dazu überreden, sich zum Kaiser eines neuen Deutschen Reiches krönen zu lassen. Er tat das auch nur unter der Bedingung, weiterhin auch König von Preußen zu bleiben, denn dieser Titel war ihm weitaus wichtiger. Deshalb interessierten sich viele deutsche Herrscher wohl auch wenig für die Reichstagswahlen. Wichtiger war ihnen, daß es in ihren Landesparlamenten weiterhin ein Klassenwahlrecht (oder wie in Mecklenburg gar kein allgemeines Wahlrecht) gab.

Es hat in Deutschland zwar Frauen gegeben, die sich für das Frauenwahlrecht einsetzten, z.B. Klara Zetkin. Aber sehr viele waren das nicht, und sie veranstalteten auch keine so großen Aktionen dafür, wie es sie teilweise in anderen Ländern gab. Ich schätze, ohne den Ersten Weltkrieg und die Revolution von 1918 wäre das Frauenwahlrecht in Deutschland wohl sehr viel später eingeführt worden. Als aber durch die revolutionären Ereignisse von 1918 die Sozialdemokraten an Einfluß gewannen, mußten sie möglichst viel tun, um den unzufriedenen Massen etwas zu bieten, ohne ihnen zu weit entgegen zu kommen. Das Frauenwahlrecht hielt man dazu für geeignet, weil es etwas Neues war und somit vielleicht den Eindruck erwecken konnte, daß sich nun etwas bewegt. Und natürlich erhoffte man sich als Dank dafür sicher auch die Stimmen der Frauen bei der nächsten Wahl. Da ja viele Männer im Krieg gefallen waren und es durch Kriegseinwirkung nur wenige Opfer unter der deutschen Zivilbevölkerung gegeben hatte, waren die Frauen zu der Zeit noch etwas mehr in der Überzahl als gewöhnlich. Da lohnte sich so etwas schon.

Tatsächlich hat also niemand in Deutschland das Frauenwahlrecht wirklich erkämpft. Es waren vor allem die Soldaten, die die Voraussetzungen für die Einführung des Frauenwahlrechts geschaffen haben. Wilhelm II. ist ja auch erst abgetreten, nachdem man ihm versichert hatte, daß die Masse der Soldaten nicht mehr loyal zum Kaiserreich steht, deshalb nicht mehr zuverlässig ist und somit weder gegen die Kriegsgegner noch gegen die protestierende Bevölkerung mit Aussicht auf Erfolg eingesetzt werden kann. (Übrigens hatten Matrosen keinen großen Anteil an den Unruhen von 1918 - es war nur unter Revolutionären sehr populär, sich als Matrosen auszugeben und Marineuniformen zu tragen, weil Matrosen in den russischen Revolutionen teilweise eine große Rolle gespielt haben.)

Freundliche Grüße
von Garfield


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