Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Wann wird man in Deutschland frei reden dürfen?

Andreas (d.a.), Monday, 13.06.2005, 23:43 (vor 7483 Tagen) @ Ridcully

Als Antwort auf: Re: Wann wird man in Deutschland frei reden dürfen? von Ridcully am 13. Juni 2005 00:19:

Hallo Ridcully,

danke für Deine Schilderung. Im Hinblick auf Dein Ausgangsposting sprichst Du da zwei verschiedene Probleme an, die natürlich auch miteinander in Verbindung stehen: Einmal die Frage nach gegenwärtigen Inhalten und Methoden der Vermittlung von Wissen (an Hochschulen); im zweiten Posting dann über die Fähigkeit zur Argumentation der diese Inhalte und Methoden reproduzierenden Studenten. Meine Situation ist von Deiner wohl doch etwas verschieden, aber Deine Kritik kann ich nachvollziehen. Die Punkte im einzelnen:

- In letzter Zeit habe ich häufiger die von Dir beschriebenen Erfahrungen machen können, dass bestimmte Themen selbst bei argumentativ einwandfreier Unterfütterung nicht oder nur äußerst schwierig anzubringen sind. Dass betraf mich, aber auch Dozenten, die mit ihren Ausführungen an Tabus rührten. Die Fragestellungen waren hier eher politisch; die Protestbekundungen reichten von Verhöhnen (ohne Argumente) über Forderungen nach Sippenhaft (z.B. für alle Amerikaner wegen der Fehler ihres Präsidenten) bis hin zum bewährten Niederbrüllen in Grüppchen (selten). Gleichzeitig die Dozenten, die - im Bewußtsein, dass Wissenschaftlichkeit manchmal politisch unkorrekter Äußerungen bedarf - anfangen, herumzudrugsen und sich schließlich um ihre Aussage drücken. - Was ich nicht nachvollziehen kann ist, wie eine argumentativ gut begründete Aussage an manchen Köpfen vorbeizieht, ohne auch nur den Hauch eines Nachdenkens zu erzeugen. Wollte ich mutmaßen, würde ich sagen, dass hier zu einseitig das Gewicht auf das Lernen der Fakten und zu wenig auf die kritisch hinterfragende Benutzung des eigenen Verstands gelegt wird. Aber das kann auch täuschen. Ich weiß auch nicht, ob man das den Hochschulen anlasten kann; eher, dass sie zu wenig dagegen tun.

- Geschlechterforschung. Ich studiere an der FU im Bereich Geschichts- und Kulturwissenschaften, Schwerpunkt Ostasien (also auch eines der hier im Forum bereits vieldiskutierten "Laberfächer"). Die FU ist - wie auch die Uni Bremen, nur öfter - Trägerin des Prädikats "Total E-Quality", was bedeutet, es wird auf Teufel-komm-raus gequotet; "echte" Gleichberechtigung ließe sich nämlich direkt aus der Statistik ablesen (was eine Professorin einst zu einem äußerst aufschlussreichen Statement bzgl. der Gründe ihrer Verweigerung der Förderung von Männern veranlasste). Neben der Erfüllung der Quote ist das zweite zentrale Anliegen, den Genderaspekt als fundamentale Kategorie in jeder Disziplin zu "institutionalisieren und zu sichern". In der Praxis bedeutet das, dass Geschlechterforschung nicht mehr als eigenes Fach betrieben wird, sondern zunehmend in Form themenspezifischer Seminare in anderen Fachrichtungen angeboten wird. - Zum Glück wird das heute noch nicht von allen Profs so gehandhabt, so dass man mit ein bisschen Glück noch drum herum kommen kann. Ich setze mich seit drei Jahren trotzdem in solche Seminare in den verschiedenen Fachbereichen, anfangs um zu lernen, heute mehr um zu kritisieren. Natürlich ist das weniger öffentlichkeitswirksam als z.B. die Aktionen vom VAfK, Pro-Test oder die Sachen von MANNdat, aber ich denke, dass es auch wichtig ist, dort, wo dieses "Wissen" letztendlich produziert wird, aktiv Widerspruch einzulegen und Argumente vorzubringen (auch wenn die Chancen, damit in den Köpfen etwas zu bewegen, eher gering sind - aber wie Du sagtest, kleine Gruppen und Einzelpersonen lassen sich eher auf unkonventionelle Ideen ein). Möglichkeiten, zu kritisieren, gibt es erfahrungsgemäß jedenfalls reichlich. Wissenschaftliches Anliegen der meisten Kurse ist es, Geschlechterbilder auf ihre historische Produziertheit hin abzuklopfen und zu dekonstruieren. Besonders "revolutionär" scheint bei einigen immer noch die Erkenntnis zu gelten, dass man auch Männerbilder hinterfragen kann. Nun ja. Entscheidend ist letztendlich nicht das Vorhaben, sondern was daraus gemacht wird. Hier finde ich oft das bestätigt, was Du in Deinem ersten Posting zum Ausdruck brachtest: Jede Verallgemeinerung gegenüber Frauen ist sexistisch und reaktionär, gegenüber Männern die analytische Praxis.

Beispielsweise ein aktuelles Seminar über Geschlechterbilder in China:
(1) Ein Text versucht, die gesamte Rechtsprechung der letzten kaiserlichen Dynastie (Qing) auf die Frage: Phallus - ja oder nein, und benutzt man ihn auch rechtskonform - zu reduzieren. Überhaupt scheint nicht nur ihr bestes Stück der alles bestimmende Gedanke der chinesischen Männer gewesen zu sein (während weibliche Genitalien prinzipiell nur von männlichen Diskursen überformt sind), die Theorie läuft letztendlich auch darauf hinaus, dass nichts außerhalb dieses "phallischen Bewußtseins" gedacht wird. - Nun, als Psychologe kennst Du Dich mit Freud sicher besser aus als ich - sag mir, wie man das nennt. (Ein Geschlechterkonstrukt, das übrigens nicht angegangen wurde, ist sexuelle Straftaten als originär und ausschließlich männlich zu betrachten.)
(2) Ein anderer Text beschäftigt sich mit Gewalt von Frauen während der Kulturrevolution. Bliebe das Buch seiner eigenen vorgeblichen Intention, Geschlechterkonstrukte beider Seiten zu untersuchen und hinterfragen, treu, gäbe es hier die wunderbare Gelegenheit, zu untersuchen, wie Gehirnwäsche und soldatische Gleichschaltung aus allen Menschen (potentielle) Kriegsverbrecher machen können. Statt dessen findet man die Ursachen in dem Zwang zur Soldatenuniform ("Männerkleidung", und demzufolge eben auch typisch "männliches" Verhalten, nämlich: morden, foltern, schlagen usw.) und der generellen Situation aller Frauen, deren Gewalt, auch wenn sie äußerlich der der Männer exakt zu gleichen scheint, immer auch Ausdruck ihrer generellen Unterprivilegierung und des Aufbegehrens dagegen ist. - Verständnis bitte!
(3) Von Dozenten- und -innenseite unkommentierte Sätze aus Studentenreferaten: "Die Männer hatten immer Angst vor den Frauen und deren Kräften, deshalb haben sie das Patriarchat geschaffen und die Frauen unterdrückt." Oder: "Wie wir ja alle wissen, haben Männer früher schon immer Frauen unterdrückt." Oder: "Natürlich lieben Frauen ihre Kinder mehr und es ist ja auch ganz klar, dass sie die Trennung von diesen viel intensiver empfinden." u.v.a.m.

Das sind nur Beispiele. Bezogen auf das Geschlechterverhältnis darf man in diesen Kursen ein Geschichts- oder Gesellschaftsmodell vertreten, für das einem in irgendeinem anderen Bereich jeder Geschichts- oder Soziologieprof wegen monomaner Anmaßung und Einseitigkeit völlig zurecht eine schallern würde. Im Laufe der Zeit, und wenn man in verschiedenen Fachbereichen aktiv ist, kennt man sich mit geschichtlichen, soziologischen oder ethnologischen Sachverhalten und Theorien irgendwann gut genug aus, um diese Ansichten auszukontern (so man die Gelegenheit dazu erhält). Die Dozenten ans Ende ihrer Argumente gebracht zu haben hat ja auch ein bisschen was Befriedigendes. Aber insgesamt ist es viel mehr belastend und frustrierend (ich bekomme davon Magengeschwüre), und vor allem sollte man die Konsequenzen abschätzen können: Wenn ich z.B. bei einer bestimmten Professorin feminismuskritische Argumente bringe, kann ich meinen Abschluß bei ihr vergessen. Und die Chancen, ein allgemein negatives Image (Reaktionär, Querulant, etc.) zu bekommen, sind gut.

Um also auf Deine Ausgangsfrage zurückzukommen: "Wann wird man in Deutschland frei reden dürfen?" - Sofort, immer ab sofort. Aber man muss wissen, was es einem wert ist, und ob man mit dem Schweigen gut leben könnte.

Herzlichen Gruß, Andreas


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