Über die Türkei ließe sich viel sagen (Politik)
Über die Türkei ließe sich viel sagen, ich bin aber auch kein Türkei-"Experte"
Geschichtliche Trauma
Das große geschichtliche Trauma ist der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches.
Gegen Russland wurden verlustreiche Schlachten geschlagen, die erst zum Schwarzen Meer und dann zu den Dardanellen drängten.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die heutige Türkei die Westmächte okkupiert. Das Land sollte zwischen Frankreich, England, Italien und Griechenland aufgeteilt werden, um Ankara herum sollte eine Art "Homeland" für Türken verbleiben, Frankreich und Großbritannien versprachen den Armeniern einen selbständigen Staat in Ostanatolien.
Der Türkische Befreiungskrieg war der Unabhängigkeitskrieg der türkischen Nation von 1919 bis 1923 unter der Führung Mustafa Kemal Paschas gegen Armenien, Griechenland und die französische Besatzungsmacht in Anatolien, die von den Westmächten Großbritannien und Italien unterstützt wurden. Er richtete sich gegen die Vergrößerung eines projektierten armenischen und des griechischen Staates auf Kosten des osmanischen Reiches sowie gegen o.g. Besatzungszonen nach dem Vertrag von Sèvres von 1920, und hatte sich zum Ziel gesetzt, innerhalb der beim Waffenstillstand von Mudros von 1918 mit der Entente vereinbarten Waffenstillstandslinien (entspricht in etwa den heutigen Grenzen) einen türkischen Nationalstaat zu errichten. Die im Vertrag von Sèvres von 1920 verankerten alliierten Aufteilungspläne der Türkei waren von der Regierung unter Damat Ferid Pascha unterzeichnet worden, riefen aber den erfolgreichen Widerstand unter Mustafa Kemal hervor.
Der Kampf hatte die Gründung eines souveränen türkischen Staates ohne politische, rechtliche und wirtschaftliche Bevormundung durch andere Staaten zum Ziel. Zudem sollte ein gemeinsames türkisches Nationalbewusstsein unter den weit über 40 ethnischen Gruppen begründet werden, unter denen die Türken die größte bildeten. - Wikipedia
Nationalismus
Die Türken sind sehr nationalistisch, aber mit dem vorstehend beschriebenen gemeinsamen türkischen Nationalbewusstsein ist es so eine Sache. Eigentlich ist das Land zwischen Türken und Kurden gespalten. Oft erhält man in Deutschland auf die Frage "Bist Du Türke?" die Antwort "Nein, ich bin Kurde!"
Integrieren tun sich beide Gruppen nicht, vielmehr führen sie ihren Konflikt auf deutschem Boden weiter aus.
Religion
Der Staatsgründer Mustafa Kemal Paschas (Atatürk, Vater der Türken) genießt große Verehrung in der Türkei. Allerdings hasste Atatürk die Religion und konstruierte die Türkei als einen radikal laizistischen Staat.
In Wikipedia steht:
Mustafa Kemal hatte ein distanziertes Verhältnis zum Islam.
Aber wahrscheinlich hatte er die Religionen gehasst. Er ließ nicht nur islamische Imam-Schulen schließen, auch christliche Kirchen und Klöster hatten in der Folge Schwierigkeiten, die ihren Ursprung nicht im Islam, sondern in Atatürks laizistischen Reformen hatte. Er ließ
* das Kalifats abschaffen
* den Hut als männliche Kopfbedeckung als Teil der "nationalen Tracht" propagierte (Hutrevolution) anstelle des für das ganze Osmanische Reich bis dahin typischen Mischung aus Fes, Turban und Kalpak. Wer fernerhin in der Öffentlichkeit mit diesen orientalischen Kopfbedeckungen angetroffen wurde, riskierte eine Geld- oder Gefängnisstrafe.
* das Kopftuch verbieten (in Parlament und öffentlichen Gebäuden)
* religiösen Bruderschaften und Orden verbieten.
* das aktiven und passiven Frauenwahlrecht einführen
* Ende 1925 wurde die islamische Jahreszählung nach der Hedschra durch die christliche Zeitrechnung ablösen
* die am Koran orientierte Rechtsprechung durch das Schweizer Zivilrecht, das deutsche Handelsrecht und das italienische Strafrecht ablösen.
* die osmanische Hochsprache der bisherigen Eliten (Amtssprache) durch die türkische Volkssprache ablösen
* die arabischen Schrift durch das lateinische Alphabet ersetzen
Durch diese doch sehr weitreichenden "Reformen" wurde das Land nachhaltig gespalten.
Die Religiösen hassten die Laizisten und umgekehrt hassten die Laizisten die Religiösen.
Aber lange Zeit hatten die Laizisten fest in der Hand.
In Wikilüg steht, dass der Regierungsstil der AKP autoritär sein soll. Das ist aber sehr relativ, man sehe sich nur den Regierungsstil Atatürks an und die laizistischen Regierungen nach ihm haben sich an seinem Beispiel orientiert.
Die Rücknahme des Kopftuchverbots und viele andere Dinge finde ich gut, solange dies zu einem Ausgleich der religiösen und laizistischen Bevölkerungsanteile führt.
Aber so wie ich mir die Sache vorstelle, gehen den Religiösen die Reformen der AKP nicht weit genug und den Laizisten viel zu weit. Die fehlende Kompromissbereitschaft dürfte ein großes Problem darstellen und wohl auch deshalb ist es für Erdogan wohl auch geraten, die Zügel fest in der Hand zu behalten.
Gerade weil sich in der Türkei Religiöse und Laizisten, Türken und Kurden so unversöhnlich gegenüberstehen, ist es ein Leichtes, von außen Unruhe und Instabilität ins Land zu tragen. Vielleicht kehrt Erdogan aus diesem Grund mit eisernem Besen aus.
Zwischen allen Stühlen
Erdogan dürfte bemerkt haben, dass sich die Türkei mit dem Abschuss des russischen Jets und die Teilnahme an Boykottmaßnahmen gegen Russland ins eigene Knie schießt.
Russische Oligarchen hatten viel Geld in die Türkei investiert und die Türkei war ein beliebtes Urlaubsziel für Russen, die es sich leisten können. Seit dem Boykott kommen aber keine russischen Touristen mehr.
Die Tatsache, dass Erdogan sich inzwischen für den Jetabschuss entschuldigt hat und nach dem Leichnam des getöteten russischen Piloten suchen ließ, halte ich für vielsagend. Er dürfte bemerkt haben, dass Russland sein Nachbar ist und die USA die durch den Boykott entstehenden Verluste nicht ersetzt.
Wenn Putin nicht nachtragend ist, könnten Putin und Erdogan sich einig werden.
Das mit der EU-Mitgliedschaft hatte ja auch nicht geklappt. Eine Neuorientierung wäre da durchaus angebracht.
Laizismus und DITIB
Während dem französische Laizismus ein Prinzip strenger Trennung zwischen Religion und Staat zugrunde liegt, so wird im türkischen Laizismus die Religion dem Staat untergeordnet. Es gibt eine kontrollierende Religionsbehörde mit dem Namen Diyanet İşleri Başkanlığı. Die Behörde hatte nach Angaben von Wikilüg im Jahre 2015 mehr als 100.000 Mitarbeitern und einem Jahresetat von umgerechnet mehr als einer Milliarde Euro.
Die Religionsbehörde entsendet Räte und Attachés an Botschaften und Konsulate, insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland. So unterhält es in Deutschland eine eigene Niederlassung: die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion (DITIB), der laut eigenen Angaben bundesweit rund 900 Moscheegemeinden beaufsichtigt. Ich habe häufig beim Fastenbrechenfest zum Ende des Ramadan Vertreter der Konsulate in den DITIB-Moscheen getroffen. Über die DITIB regiert der türkischen Staat also in die inneren Angelegenheiten in Deutschland hinein.
Diese Situation verdanken wir aber nicht einem politischen Islam, sondern dem türkischen Staatgründer Atatürk und dem von ihm geprägten laizistischen Staat.
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- Die Invasion der Flüchtlinge wirft immer neue Fragen auf, deswegen habe ich mal ein wenig rumgesucht -
Mus Lim,
01.08.2016, 21:59
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Christine,
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Mus Lim,
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Nihilator,
04.08.2016, 23:40
- Nihilator - Mus Lim, 06.08.2016, 22:14
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Nihilator,
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