Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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OT-Russlanddeutsche Sozialschmarozer

Narrowitsch, Berlin, Friday, 25.09.2009, 18:16 (vor 5939 Tagen) @ Garfield

Außerdem haben wir ja im Moment die Situation, daß ein hoher Prozentsatz
der Einwanderer hier gar nicht mehr arbeitet. Ein Beispiel dafür:

In den 1990er Jahren arbeitete ich in einer Fabrik. Da wurden während der
Hauptsaison immer Leute befristet eingestellt. Darunter waren auch oft
sogenannte Rußland-Deutsche.

Was meinst Du mit "sogenannten"? So etwas wie sogenannte Kater oder sogenannte Elefanten?

Ein Kollege redete nun mal mit einem von denen.

Das ist fein, dass mal einer mit einem von denen redet, der konnte doch bestimmt kein richtiges Deutsch?

Der erwähnte dabei, daß er mit seiner gesamten Familie nach Deutschland
gekommen ist - Frau, Kinder, Eltern, Großeltern, alle waren mitgekommen.
Mein Kollege fragte nun, wovon die denn alle leben.

Vielleicht hätte er mal fragen können,warum Frau, Kinder, Großeltern - also die ganze Familie nach Deutschland kamen und mit welchen Vorstellungen auch arbeitsmäßig.

Weist Du, seit 1990 beschäftige ich mich mit Russlanddeutschen und ich bin stolz, einige von ihnen zu meinen guten Kumpels zu zählen. Vielleicht sind es sogar Freunde, aber mit dem Wort bin ich vorsichtig.Deshalb erlaube ich mir, Dir und Deinem Kollegen ein paar Fakten zu nennen, die vielleicht mit bedacht werden sollten, wenn es um die Bewertung russlanddeutscher Arbeitshaltungen geht.

1. Russlanddeutsche sind keine sogenanten Deutschen, sie sind Deutsche und zwar ganz spezielle. Sie haben für ihr Deutschsein einen verdammt hohen Preis gezahlt. Und zwar nicht erst nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die damalige Sowjetunion. Bereits während des 1. Weltkrieges und dann einweiteres mal nach der Oktoberrevolution kam es zu gegen sie gerichtete Deportationen und Progromen. Warum? Weil sie zu den Besitzenden zählten. Und zwar nicht auf Grund der Ausbeutung höriger Bauern, sonder wegen ihres Fleißes, ihrer Erfindungsgabe (Kornkammer Ukraine ist z.b ihr Verdienst) und ihres Gemeinschaftssinns. Russlanddeutsche, sind Deutsche, die dem Ruf Katharina II folgend, aus faktischen menschenleeren Gebieten blühende Landschaften schufen. Anders als moderne Gastarbeiter begannen sie ihr Wirken nicht selten aus selbst gegrabenen Erdhöhlen heraus, sie gaben dem Wort Kolonie einen anderen Sinn, als den, der heute gebräuchlich. Dabei zeichneten sich Russlanddeutsche durch beispielgebende Loyalität zum russischen Reich, also zu ihrem Einwanderungsland, aus. Die Konservenproduktion während des 1. Weltkrieges - nur mal beispielsweise - besorgten Russlanddeutsche. Mit anderen Worten, sie leisteten dort ganz anderes, als lediglich die Einführung speziell deutscher kulinarischer Spezialitäten, sie arbeiteten auch nicht einfach in irgendwelchen Werken,- sie schufen ganze Erwerbszweige. In der nogaischen Steppe errichtete der Baron von Falz - Fein- nur mal als weiteres Beispiel - das erste Sozialwesen - also eine Gemeinde mit Schulen, modernen Straßen, Kranken- und Rentenversicherung - auf russischem Boden, welches den Namen verdient. Allerdings verloren Russlanddeutsche dabei nie völlig spezielle Verbindungen zum Herkunftsland, pflegten eigene Kultur und die deutsche Sprache. Kurz: Sie waren die Art von Gastarbeitern, wie ich sie mir für Deutschland wünschte. Nach dem besagten Einmarsch deutscher Truppen deportierte Stalin alle Deutsche vorzugsweise nach Kasachstan und Sibirien. Alle Erwachsenen im Alter bis 60 Jahre - mit Ausnahme von Müttern mit Kindern unter 3 Jahren - presste Stalin in sogenannteTrudarmeen. Also Sklavenkolonnen in Lagerhaft, die nicht einmal mit dem Kriegsende aufgehoben wurde. Dass Deutsch sprechen bei harter Strafandrohung verboten war, erklärt die sprachlichen Probleme dieser Leute und sei nur am Rande erwähnt. Ebenso die Repressionen, denen Russlanddeutsche wegen ihrer religiösen Überzeugungen ausgesetzt waren.
Diese Geschehnisse schaffen ein besonderes Band zwischen Deutschland als Rechtsnachfolger des 3. Reiches und denen, die die Folgen als Deutsche für die Politik Hitlers zu zahlen hatten.
Wenn also Russlanddeutsche nach Deutschland zurück kehren, so geschieht es nicht, weil sie eine soziale Hängematte suchen, sondern weil sie den drückenden Verhältnissen in ihrer zweiten Heimat entkommen wollen. Interessanterweise spielen diese Hintergründe in den Medien und in Regierungsverlautbarungen kaum bis keine Rolle. Und das, obwohl Deutschland den Rückkehrern mit Recht eine Entschädigung zahlt. Offenbar schämt fürchtet Politik den Vorwurf Nationalismus; Deutschsein ist für nichts Grund, es sei denn, sich Asche auf die Häupter zu streuen. Vielleicht ist es nicht schlecht etwas von diesen Verhältnissen zu wissen, wenn man mit einem von denen spricht.

2. Selbstverständlich kommen ganze Familienverbände nach Deutschland, Familie spielt bei Russlanddeutschen auch aus den genannten Gründen eine andere Rolle, als hierzulande üblich. Ich wünschte mir genau diesen Familiensinn in der Bundesrepublik fest verankert. Das dies nicht so ist, hat mit dem Thema des Forums zu tun.

3.Du übersiehst bei deinen Betrachtungen marktwirtschaftlichen Nutzens der Russlanddeutschen, die Halbherzigkeit der deutschen Wiedereingliederungspolitik. Hast Du eine leise Ahnung, wieviel diplomierte HilfsarbeiterInnen sich allein in Berlin mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten? Der Staat BRD ist nicht in der Lage mit entsprechenden Fortbildungsmaßnahmen, die auf vorhandenes aufbauen, das immense Wissenspotenzial für die Gesellschaft nutzbar zu machen.

4. Eine ganze Reihe der Rückkehrer kehren Deutschland wieder den Rücken- sie hatten andere Vorstellungen von einem Volk.

Deshalb:

Der Mann antwortete,
daß sie von seinem Lohn leben und ansonsten von Sozialhilfe und
Mindestrente. Er wäre der einzige, der arbeitet. Mein Kollege fragte, ob
das denn reicht, und darauf antwortete der Mann, daß das kein Problem wäre,
das Amt würde ja alles bezahlen...

Nun ist ja ganz klar, daß ein einzelnes Familienmitglied mit einem
Saisonjob niemals all die Sozialleistungen und Mindestrenten für seine
Großfamilie finanzieren kann. Woher kommt dieses Geld also? Das müssen alle
Pflichtversicherten mit ihren Beiträgen bezahlen und die
Effektiv-Steuerzahler mit ihren Steuern. Es drückt ihnen also letztendlich
die Einkommen herunter.


Vielleicht überdenkst Du Deine Abschätzigkeit gegenüber den Russlanddeutschen, erkundest mal die Vorstellungen anderer Migrantengruppen und setzt sie ins Verhältnis. Im Übrigen: Zufällig weiß ich, dass die Familie eines der interessantesten Schreiber im Forum selbst einen schlimmen Blutzoll für ihr Deutschsein in Russland gezahlt hat. Falls er mit liest - vielleicht sagt er auch noch ein paar Takte zum Thema. Und nochmals im Übrigen: Die Theorie der sogenanntenfreien Marktwirtschaft taugt nicht zur Erklärung aller gesellschaftlichen Erscheinungen.

Narrowitsch

--
Extemplo simul pares esse coeperint, superiores erunt-

Den Augenblick, sowie sie anfangen, euch gleich zu sein, werden sie eure Herren sein.


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