Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Meine Interpretation von "Oleanna"

Texaco, Thursday, 30.06.2005, 19:12 (vor 7466 Tagen) @ Arne Hoffmann

Als Antwort auf: aktueller TV-Tipp für Femis und Maskus: "Oleanna" von Arne Hoffmann am 30. Juni 2005 07:49:23:

Ich habe das Stück gesehen, es ist tatsächlich sehr gut geschrieben. Es fordert Kontroversen auf mehrere Weisen heraus: Erstens geht es ein Tabu-Thema an, und zwar mitten in den feministischen 90ern. Zweitens lässt es nicht einfach Gut und Böse aufeinanderprallen, sondern schafft bewußt Figuren, die sich so oder so interpretieren lassen. Die Deutung ist also zunächst einmal offen gehalten, jeder kann sehen, soviel er – oder sie – sehen will. Folge: In den Interpretationen offenbaren sich die Werte der Rezensenten.

Im ersten Akt ist der Professor ein Blender, wie man es an realen Universitäten leider nicht selten findet. Ihn interessiert seine Karriere (er hat eine Frau zu versorgen, die sich noch dazu die Freiheit nimmt, ihn tagsüber laufend anzurufen) aber weder sein Fach, noch seine Studenten. Er hat seinen Status, auf den ist er stolz, und den braucht er angesichts der häuslichen Misere vermutlich auch. Eine hilfsbedürftige Studentin interessiert ihn am allerwenigsten. Manche Studenten scheitern eben. Sein Interesse ist erst geweckt, als er in ihr eine Zuhörerin gefunden zu haben meint, der er das Geheimnis seines beruflichen Erfolgs darlegen kann. Wenn ich es richtig verstanden habe, lautet das: Die Universität erwartete von ihm viel Schein und wenig Sein, und weil er das schneller als die anderen erkannt hatte, konnte er schneller liefern. Eine Entblößung ohne Folgen – die Studentin versteht ihn nicht, sie ist dafür wirklich zu doof. (Korrupt genug wäre auch sie.) Der Professor seinerseits weiß am Ende des ersten Akts nicht viel über sie – er hat zuwenig zugehört.

Im zweiten Akt streiten die beiden über Anschuldigungen, die sie in der Zwischenzeit gegen ihn erhoben hat, und mit denen sie ihn vernichtet. Die Telefonanrufe zeigen einmal mehr, wie viel für ihn von seiner Position abhängt. Der Dialog zeigt, wie vage definierte „Verbrechen“ und öffentliche Hysterie die Studentin mächtig gemacht haben. Wobei sie nichts erfinden muss; sie muss es nur aus dem Zusammenhang reißen. Alles was er gesagt hat, wird politisch korrekt uminterpretiert als Unterdrückung mit dem Ziel, sexuelle Gefälligkeiten zu erpressen. Der Professor ist schuldig bei Anklage. Sie dagegen hat nicht mal Schuldgefühle, sondern glaubt sich im Gegenteil im Recht. (Auch der zweite Akt ist ein Vier-Augen-Gespräch, und sie verteidigt sich.) Als der Professor am Ende ihren Vernichtungswillen und erkennt und sie – seinen Untergang im Auge – niederschlägt, gibt sie preis, dass sie PC als eine legitime Waffe ansieht.

Die beiden Rezensionen sind IMHO sehr geschlechtstypisch. Der Rezensent ringt explizit um Objektivität, und kann letztlich kein sexuelles Fehlverhalten des Professors erkennen, während die Studentin akademisch schlicht unzulänglich ist. Die Rezensentin hingegen erklärt sich als Feministin, ergreift als Zuschauerin Partei, nimmt jede Deutung seitens der Studentin als ungebrochenes Faktum und sieht nur die schlechten Seiten des Professors, der deshalb nur das kriegt, was er auch verdient. Und deshalb tritt sie in die Falle des Autors – ihre moralische Selbstgerechtigkeit wird offenbar. Sie hält Oleanna ganz im Ernst für ein Stück feministischer Erbauung.

Interessant ist ihre Wahrnehmung dennoch: Ihr entgeht das Kriterium akademischen Erfolgs. Es bleibt meiner Erinnerung nach offen, ob die Studentin an der Vernachlässigung durch den Prof oder an ihrer eigenen Dummheit scheitert. Für den Rezensenten ist das übrigens gar keine Frage: Sie müsste etwas tun, um Respekt zu erwerben. Der Professor erklärt ja sogar wie. Der Rezensentin hingegen entgeht die Chance, die der Professor der Studentin bietet. Für sie ist der Skandal nicht, dass „Oleanna“ paradoxerweise die Werte der Universität korrumpieren müsste, um dort Erfolg zu haben, sondern dass eine Frau scheitert, während ein Mann seinen Erfolg feiert.

Das macht nachdenklich.

Warum ist dieser Mann eine solch universelle Provokation für Frauen? Er unterbricht die Studentin laufend, er hört nicht zu, er erzählt davon, wie er selbst es geschafft hat. Er ist zu sehr ein Selbstdarsteller, um der beste Dozent zu sein, aber er liefert ihr trotzdem hilfreiche Informationen. Das macht es für jeden Studenten und jede Studentin schwer – aber ist das Unterdrückung? Warum scheinen es gerade seine inhaltsreichsten Ausführungen zu sein, die Frauen als selbstverliebtes Geschwafel ansehen? In männlicher Wahrnehmung begründet, in weiblicher Wahrnehmung präsentiert der Prof mit seinen Reden seinen Status. Aus Frauensicht lässt er sie ihre Unterlegenheit spüren, er „nimmt sie nicht ernst“ und verweigert eine Beziehung auf gleicher Augenhöhe. Selbst sein späteres Hilfsangebot wird ihm als Herablassung ausgelegt. Doch Status beruht nun mal auf Leistung. Woher also der Hass?

Ich vermute, es liegt an der Kombination aus männlicher Selbstgewissheit und Selbstgenügsamkeit. Die Studentin ist ihm tatsächlich egal. Ob sie strahlt oder weint oder schmollt, hat keinen Einfluß auf sein vollkommenes Glück. Und hier liegt die Kapitalsünde des Mannes, wegen der Frauen nach seiner Vernichtung trachten. Es ist die Attraktivität seiner „Ich-habe-gerade-den-Sieg-meines-Lebens-errungen“-Ausstrahlung verbunden mit der „Du-bist-mir-völlig-egal“-Kränkung. Hier ist ein Alpha-Tier, das ein Weibchen zurückweist und damit dessen sexuelles Selbstwertgefühl vernichtet. Und deshalb bestehen keine Hemmungen, den Status und damit auch die sexuelle Macht dieses Mannes zu zerstören.

Denn das ist der Clou: Die zwei Szenen, die „er“ – der Rezensentin zufolge – „nicht bewußt“ als sexuell empfindet, werden umgekehrt von Frauen gerade als solche interpretiert. Eine junge Studentin kommt zu einem mächtigen Mann ins Büro. Sie sind unter vier Augen. Sie bittet um Hilfe. Sie hat sich ihm doppelt ausgeliefert. Und er guckt lieber in den Spiegel als sie an. Die Situation erregt ihn nicht sexuell, aber er nutzt sie aus, um sein Ego zu streicheln. Der mächtige, beeindruckende Mann verschmäht die verwundbare, junge Frau. Statt dessen zeigt er ihr, wie viel mächtiger er ist als sie. Darin liegt die Provokation. Der Clou ist die Wirkung der hier unerkannten, dort geleugneten weiblichen Sexualität.


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