Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Jungenarbeit und Antisexismus

IBGM, Sunday, 12.06.2005, 21:59 (vor 7484 Tagen)

Antisexistische Jungenarbeit ist im Verständnis vieler eine notwendige Ergänzung zu feministischer und parteilicher Mädchenarbeit. Mädchen und Frauen haben ja allen Grund sich gegen Sexismus und die damit verbundene Anmache, Demütigungen und Übergriffe von Jungen und männlichen Jugendlichen zur Wehr zu setzen. Sexismus hilft, Mädchen und Frauen eine randständige soziale Positionen zu zu weisen, funktionalisiert und objektiviert sie. Mit sexistischen Sprechen wird der weibliche Körper symbolisch besetzt und ausgebeutet. Damit trifft Sexismus Mädchen und Frauen zielgerichtet und absichtsvoll. Er ist Bestandteil des Systems des Geschlechterdiphormismus und damit der Unterdrückung der Mädchen und Frauen in der Gesellschaft. Die fachliche Weisung zur Mädchenarbeit der Hamburger Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung fordert dementsprechend konsequent eine, die Mädchenarbeit ergänzende, antisexistische Jungenarbeit. Obgleich Jungenarbeit nicht näher konzeptionell bestimmt wird, ist damit eine Grundaussage über deren Ziel und Inhalt getroffen.

Die Wut vieler Frauen und mancher Männer auf Jungen, männliche Jugendliche und erwachsene Männer, die sich sexistisch äußern oder verhalten ist verständlich und berechtigt. Besonders in der offenen Jugendarbeit dürften sexistische Sprüche an der Tagesordnung sein. Ohne Frage: Jugendarbeit muß ebenso antisexistisch wie antirassistisch sein. Jugendarbeit muß Vorurteile, Minderheiten- und Frauenfeindlichkeit abbauen und Jugendlichen Anreize zur Veränderung in Richtung Toleranz und Verständigung bieten. Antisexismus sollte deshalb Bestandteil jeglicher Kinder-, Jugend- und Sozialarbeit sein.

Und doch: aus Sicht der emanzipatorischen Jungenarbeit ist das Konzept des Antisexismus unzureichend und mangelhaft. Es ist kein Ansatz einer geschlechtspezifischen Jungenarbeit. Der Ansatz tritt den Jungen vielmehr äußerlich entgegen, ist blind für die männliche Lebensrealität, kann die Brüche, Belastungen und Schwierigkeiten der männlichen Biografie und deren Zusammenhang mit männlichen Verhaltensweisen nicht sehen und schon gar nicht auflösen. Die antisexistische Arbeit steht im Kontext der allgemein maskulin-zentrierten Jugendarbeit, die zwar Jungen in den Blick nimmt, deren Spezifik jedoch generalisiert und so verschleiert.

Die Biographien der Jungen, ihre Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung, die Probleme und Nöte der Jungen bleiben ausgeblendet. Die Jungen sind - wieder mal - Problemlieferanten der Jugendarbeit. Als solche erscheinen sie als (potentielle) Täter, als Sexisten, die Mädchen benachteiligen und diskriminieren. Letztlich wird damit produziert, was man eigentlich verändern wollte. Die Jungen bleiben Täter, die Mädchen Opfer! Per Definition ist der kritisierte Zustand festgeschrieben und unschwer als selbsterfüllende Prophezeiung zu erkennen. Die “Erfinder” des Antisexismus-Konzeptes bringen ihr Jungenbild auf den Punkt: “Was Hänschen nicht lernt, verändert Clara nimmermehr!”1 So hieß das Modellprojekt der Heimvolkshochschule in Frille. Deutlicher kann man die Message an Jungen nicht formulieren...

Mit Jungen wird gearbeitet, weil sie Mädchen und Frauen stören, behindern und dominieren. Um Mädchen die Chance zur gleichberechtigten Partizipation zu eröffnen, soll - so das Ziel der Antisexisten - den Jungen das “Hineindenken in Mädchenrealitäten”2 ermöglichen werden. Das ist eine pädagogische Milchmännerrechnung. Das Konzept wird negativ begründet und kann allein deswegen die Jungen nicht erreichen. Die praktischen Folgen des Konzeptes können in dem Abschlußbericht der Alten Molkerei studiert werden. Die Jungen werden durchweg als Feinde der männlichkeitskritischen Pädagogen beschrieben, werden systematisch zu Versagern gemacht und weggedrückt. Die Jungen erscheinen den Friller Mitarbeitern meist “erwartungsgemäߔ(!) “dominant”, “schwatzen und machen Witze”, müssen in “irgendeiner Weise auf sich aufmerksam machen” und ziehen “aufgrund pädagogischer Interventionen beleidigt”4 ab. Statt zu versuchen, die Jungen für sich selbst zu sensibilisieren, ihnen Reflektions-, Verständnis- und Veränderungsmöglichkeiten für die eigene, männliche Realität zu eröffnen, wird ihnen gesagt, Männlichkeit sei dysfunktional, was wohl heißen soll: irgendwie bist du megaout! Der Bericht der HVHS ist ein Dokument der Schieflage eines Konzeptes, das nichts verstanden und begriffen hat.

Wer sich mit Jungen nur dann beschäftigen will, wenn sie Probleme machen, betreibt alles, jedoch keine spezifische Jungenarbeit und hat den wesentlichen Grund für Jungenarbeit nicht verstanden. Mit dem selben Recht könnte eine antifaschistische oder antirassitische Jungenarbeit gefordert werden. Ebenso wie Antigewaltprojekte, Drogenarbeit oder Kriminalitätsprävention künftig Jungenarbeit genannt werden könnten. Das ist möglich, macht deswegen jedoch noch keinen tieferen Sinn. Ein neues Label auf alte Konzepte zu kleben, ist in Zeiten der Verteilungskämpfe oft geübte Praxis, führt aber kaum zu wirklich Neuem.

Die innovative Kraft des Feminismus, die zu der Entwicklung der Mädchenarbeit führte, verpufft dann, wenn dessen eigene These der geschlechtsspezifischen Prägekraft der Sozialisation nicht für den Bereich der Jungenarbeit weitergedacht wird. Im alten Stil Pädagogik mit Jungen und männlichen Jugendlichen zu machen, ohne zu sehen, was männliche Sozialisation für Jungen und männliche Jugendliche bedeutet, wie sie zugerichtet und produziert werden, ändert letztlich nur den Namen, nicht den Inhalt des pädagogischen Verfahrens.

Ist bei der Mädchenarbeit der Anspruch der konzeptionellen Orientierung an spezifischen Lebensrealitäten der Mädchen und weiblichen Jugendlichen durch den Anschluß an feministische Theorietraditionen mehr oder weniger gewährleistet, so kann dies auf Seiten der Jungen mit den Antisexismus-Ansatz nur schwerlich behauptet werden. Jungen machen Problem, und damit basta! Den Jungen tritt hier eine vorgefertigte, durch eigene Erfahrungen der PädagogInnen und feministische Theoriebildung begründete, aber nichts desto trotz äußerliche Axiomatik entgegen. Bevor erst einmal zu sehen versucht wird, was das Spezifische der männlichen Lebensrealtität sei, werden Jungen mit einem zum pädagogischen Konzept erhobenenen Sexismus-Verdacht konfrontiert.3

Veränderung - so lautet eine therapeutische Binsenweisheit - wird nur dann stattfinden können, wenn Zeit und Raum, aber auch Verständnis und Annahme mobilisiert werden. Wenn Sexismus das drängende pädagogische Problem ist, so sollte dennoch versucht werden zusammen mit den Jungen die Entstehungsgründe, die Funktionen und Bedeutungsgehalte des Sexismus verständlich zu machen. Was eben erstmal heißt, die Gründe, Funktionen und Bedeutungen, die “sexistisches Verhalten” für die Jungen hat, zu verstehen. Erst das “Hineindenken” in die eigene Jungenrealität könnte Jungen befähigen, ihr Verhalten und dessen Enstehungsbedingungen kritisch zu reflektieren und zu verändern. Bei diesem Prozeß wäre Empatie und Nähe, Kontakt und Zärtlichkeit nötig, nicht die Knute einer “Anti-” Pädagogik!

Ich möchte anhand eines Beispiels versuchen zu verdeutlichen, warum Jungen Sexismus “brauchen”, wozu sie ihn einsetzen und welche Funktionen er für Jungen besitzt. Dabei werden die Mädchen als Opfer ausgeblendet. Es geht um Jungen in der Jungenarbeit! Dies mag auf den ersten Blick nicht mehr kompatibel zur Mädchenarbeit sein. Es ist aber unverständlich, warum für die Konzeptionierung der Jungenarbeit der Umweg über Mädchenarbeit gegangen werden soll. Die Jungen sind es wert, um ihrer Selbst willen angesprochen zu werden. Dies gilt auch und besonders dann, wenn ein Junge sexistisch ist.

Beispiel: Sexismus

Ein sexistischer Satz eines männlichen Jugendlichen in einem Jugendzentum könnte etwa folgendermaßen lauten: “Die Votze möchte ich die Wand hoch vögeln!” Mit diesem Satz, so meine These, sind Funktionen verbunden, die ihn verständlich, sinnvoll und sozial adäquat erscheinen lassen. Der Satz findet ja innerhalb eines Systems (z.B. einer Gruppe männlicher Jugendlicher in einem Freizeitheim) statt, welches ihn versteht und als sinnvoll erlebt. Für die Analyse der Kommunikation ist eine “hermeneutische Barmherzigkeit” (Habermas) zu fordern, die vorerst zu verstehen sucht, wie Kommunikation in dem sozialen System möglich ist. Im Wesentlichen sehe ich drei Komponenten, die den Satz des Jungen in seiner peer-group sinnvoll machen:

a) Anschluß an männlicher Kommunikationsweisen
Entgegen vieler anderer Jungensätze, die denkbar wären, (etwa: “Gestern habe ich meiner Oma einen Kasten Wasser geholt.” oder “In meiner Firma haben wir ein Problem, über das ich gerne reden möchte.”) trifft der sexistische Satz des Jungen in der Regel in Jungen- oder Männergruppen auf offene Ohren. Der Junge wird gehört. Er löst mit seinem Statement vielleicht lautes und zustimmendes Gelächter, vergnügtes auf die Beine, Tische oder Schultern Schlagen und - soweit Getränke vorhanden - gegenseitiges Anprosten aus. Er hat somit einen anschlußfähigen Satz geliefert und zum Gelingen der Kommunikation in der Jungengruppe beigetragen.

Seltsamerweise sind Jungensätze dann besonders anschlußfähig, wenn sie unverbindlich nach außen gerichtete Weltaneignungs- und Weltdefinitionssätze sind. Diese sind in der Regel ohne offensichtlichen Bezug zur eigenen Befindlichkeit, selbst dann, wenn (wie in unserem Beispiel) eine “Ich-Aussage” (ich möchte...) verbalisiert wird. Die “Ich-Aussage” des Jungen wird jedoch in einem Außensätzen versteckt (codiert) und gleichzeitig von der Gruppe kollektiv “übersehen”. Durch diesen Trick, sind emotionale Aussagen oder Selbstbeschreibungen zwar da, bleibt jedoch unterhalb der (“offiziellen”) Wahrnehmungsgrenze.

Ein Satz, der darauf besteht, über dessen Sprecher Botschaften zu enthalten und nicht vornehmlich über jemanden anderes, die “Welt” oder eine Sache, ist in der männlichen Kommunikation dagegen problematisch, weil er gegen das kulturelle Konstrukt der Männlichkeit verstößt. Man stelle sich beispielsweise vor, der Junge würde sagen: “Ich bin irgendwie traurig, daß ich mit Frauen keinen Kontakt habe und nicht vögeln kann, wie ich es gerne möchte.” Dieser Satz liefert der peer-group alle Möglichkeiten zur Diskreditierung des Jungen. Mit der Codierung emotionaler Botschaften in Außensätze gelingt es den Sprechern, ihre Befindlichkeit zu verschlüsseln, sich gegen Diskreditierung abzuschotten und einen Satz zu sagen, der in der Gruppe bestehen kann. Der Jungen trifft auf Zustimmung und Sympathie, weil er im Kontext der Männlichkeit bleibt und sich an die geltenden Regeln hält.

Jungen, die sich selbst thematisieren wollen, tun dies, wenn möglich, nicht in der Jungengruppe oder am Stammtisch, sondern bei den Eltern, der Freundin oder den sozialpädagogischen MitarbeiterInnen der Einrichtung.

b) Beleg der “Männlichkeit”
Der Junge zeigt mit seinem Satz, daß er ein “richtiger Mann” ist, einer der Frauen Wände hoch vögeln könnte, wenn er nur wollte. Dabei spielt keine Rolle, ob er es denn könnte oder nicht, nicht mal ob er schon jemals mit einer Frau Sexualität hatte, sondern allein sein Satz weist ihn als “richtigen Mann” aus. Dem Sprecher gelingt mithin die Besetzung des Männer-Pols. In dem Satz ist die Rollenverteilung klar: der Sprecher setzt sich in die aktive, übermächtige und kraftstrotzende, die Frau hingegen in die passive, ohnmächtige und minderwertige Position. Mann-Sein heißt ja aktiv, kräftig, potent sein. Genau dies beansprucht der Sprecher für sich.

Frauen werden in der Aussage auf ihr Genital reduziert, objektiviert und damit der funktionalisierten Sexualität zugeführt. Durch die Entlebendigung der Frau ist Platz für eine entlebendigte, männliche Sexualität, die aktiv sein muß um “männlich” zu sein. Es ist kein Zweifel möglich, wer so spricht, so Sexualität, Frauen und sich selbst beschreibt/empfindet, der hat verstanden, was “Mann-Sein” heißt. Genauer: er hat den gesellschaftlichen Auftrag, die Zwänge der Männerrolle internalisiert, seinen Körper abgespalten und den Kontakt zu sich selbst verloren. Aber selbst dieser Prozeß der Zurichtung erscheint auf maskuliner Seite als aktiv, ist codiert als “männliche” Weltaneignung, die das Ausgeliefertsein des Mannes an die prägende Wucht der Geschlechterkonstruktion kaschiert.

Der Sprecher hat seinen “Anspruch” auf Männlichkeit “aktiv” abgesichert. Dies dürfte von der Gruppe nicht bestritten werden. Sexualität wird hier so beschrieben, wie sie sein soll und - daß weiß eigentlich jeder Mann - nicht wie sie ist, sein könnte oder wie Mann sie sich erträumt. Jungen die jedoch von ihrer Sehnsucht, ihrer Trauer, Unsicherheit oder gar der Angst vor dem möglichen “Versagen” sprechen würden, wären Gegenstand des Gelächters und des Spottes. Zu viele sexistische Witze zielen gerade auf die Potenz und Leistungsfähigkeit des Mannes. Wer z.B. ein Loch im Billard nicht trifft, sei auch zu dumm zum vögeln! “Männlichkeit” ist an Leistung und Leistung an Sexualität gekoppelt. Wer keine aktive, sprich penetrierende (“wirkliche”) Sexualität mit einer Frau hat, ist prinzipiell kein Mann. Der “Wichser” ist wie der “Schlappschwanz” oder das “Muttersöhnchen”, der um seine “Männlichkeit” beraubte Mann.

Frauen abwertende Sprüche stellen - ebenso wie viele andere männliche Produktionen - “Männlichkeit” her! Sätze die diese Anforderungen nicht erfüllen, machen verletzlich und bieten Angriffsflächen zur Diskreditierung des Aktors. Diskreditierung läuft häufig über die Aberkennung der “Männlichkeit”. Diese kann wiederum nur durch ein als “männlich” definiertes Verhalten zurück gewonnen werden. Dieser Walzer-Takt aus Abweichung-Diskreditierung-Konformität normiert und tradiert Männlichkeit im gesellschaftlich vorgegebenen und eingeforderten Sinn.

c) Besetzung der “richtigen” sozialen Position
Selbst wenn kein Mädchen oder keine Frau in der Situation anwesend ist, wird quasi als Fernwirkung den Mädchen und Frauen eine randständige soziale Position zugewiesen, ihr Körper besetzt und ausgebeutet. Das ist jedoch nur die eine Seite. Es geht im männlichen Sprechen immer auch um Weltaneignung, Aktivität und die eigene soziale Position, die qua Geschlecht zugewiesen wird und dennoch erkämpft werden muß. Um die eigene “superiore” Position abzusichern, ist es nötig Mädchen und Frauen abzuwerten und sie z.B. als passiv zu beschreiben. Die aktive Frau ist immer auch Schlampe oder Hure, eine, dies mit jedem macht. In der auf Aktivität gedrillten Männlichkeit hat nur die passive Frau Platz. Selbst wenn sie aktiv ist oder so erlebt wird, muß sie dennoch passiv gemacht werden, soll nicht die definierte Männlichkeit damit in Frage stehen.

Nur durch diesen Zusammenhang können Härte, Aggressivität, Häufigkeit und Intensität der sexistischen Sprache und Praxis in männlichen peer-groups verstanden werden: die Mädchen und Frauen müssen weggedrückt werden, um die eigene “männliche Identität” herzustellen. Das Prädikat der “Männlichkeit” muß erkämpft werden, denn es wird nur kurzzeitig und auf Widerruf vergeben. Der Abzug des Prädikats diskreditiert den Mann, entzieht “Identität” und zwingt ihn, sein Verhalten jeweils auf seinen “Männlichkeitswert” zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren.

Sexismus abbauen zu wollen, ohne die individuellen und gesellschaflichen Funktionen dieser Semantik der Männlichkeit reflektiert und aufgelöst zu haben, erscheint mir als absurd. Alles in allem zeigt die kurze Analyse, daß auch Sexismus, aus Sicht der Jungen ein Instrument ist, mit dem an dem Aufbau der eigenen “männliche Identität” gearbeitet werden kann. Männliche Identität wird lediglich simuliert. Sie ist demenstprechend brüchig, weshalb Männer so viel Mühe auf deren Absicherung und Stabilisierung aufwenden müssen. Mit diesem Modell kann die kulturelle, soziale und politische männliche Praxis in Bezug zu einem Mangel an Identität, an Selbstbewußtsein und an Kontakt mit sich selbst gesetzt werden. Ein Mann, der sich selbst kennt, seine Emotionen wahrnimmt, seinen Körper fühlt und im Frieden mit sich ist, wird diese Formen der Identitätsherstellung nicht in dieser Weise und Intensität benötigen. Jungenarbeit setzt genau hier an.

Geschlecht als Konstruktion

Sexismus ist (individuell) ebensowenig wie anderes Verhalten dysfunktional, solange es einen subjektiven Sinn hat, verstehbar ist und einen bestimmten Zweck dient. Jungenarbeit müßte - und das wäre das Geschlechtsspezifische an ihr - verstehen lernen, was “Männlichkeit” für Jungen bedeutet und welche Lösungen sie für die “normativen Zumutungen” (Sommerkorn) gefunden haben. Männlichkeit ist ein codierter und normierter Bereich mit individueller Prägekraft. In der männlichen Sozialisation wird die Produktion des Mannes, d.h. die konkrete Zurichtung des Jungen organisiert. Männliches Verhalten ist dann verständlich, wenn Männlichkeit als soziales Konstrukt begriffen wird, daß von den Jungen nicht weniger verlangt, als die Aufgabe des Kontaktes zu sich selbst, zu seinen inneren Welten, seiner Emotion und seinem Körper. Mann-Sein heißt sich verhalten können, seinen Schmerz, seinen Körper, seine Emotionen, Sehnsüchte und Ängste auszulagern.

Geschlecht ist auch für Jungen ein durchstrukturiertes und vorgefertigtes Korsett, in dem es sich kaum schnaufen läßt. Dabei ist freilich im Kontext einer zwangheterosexuellen und geschlechtspolaren Gesellschaft nicht zu übersehen, daß Jungen die besseren, oberen, machtvollen, den Mädchen die schlechtereren, unteren, machtlosen Plätze zugewiesen werden: aber beide, Jungen wie Mädchen, sind gezwungen, die Vorgaben und Anforderungen auszufüllen. Und bei genaueren Hinsehen wird zudem deutlich: die Definition bestimmter Positionen als “oben” oder “unten”, als “besser” oder “schlechter” ist genau der Gesellschaft entsprungen, die diese Plätze bereithält. Die Hierarchiesierung gehört zu der Konstruktion der Geschlechter ebenso, wie die Benennung der sozialen Orte als Oben und Unten.

Wir haben gelernt, dies so zu sehen und so zu empfinden. Erst wenn der Kontext der Kritik verändert wird, kann der Mythos der Privilegierung des Mannes in der Gesellschaft durchschaut und aufgelöst werden. Solange an diesem Mythos festgehalten wird, müssen Jungen damit leben, daß sie zwar zugerichtet, eingezwängt und produziert wurden, jedoch als priviligierte Täter behandelt werden. Das ist der Witz der Geschlechterkonstruktion: der Prozeß der männlichen Zurichtung wird in aktive Weltaneignung verdreht, für deren Folgen Jungen sich individuell veantworten müssen.

Sozialisation: männlich-weiblich

In der Praxis der Mädchenarbeit hat sich mittlerweilen die Einsicht durchgesetzt, daß wir es immer mit Menschen zu tun haben, die entweder eine männliche oder eine weibliche Sozialisation durchlaufen haben (auch Transsexuelle haben das). Jungen unterscheiden sich von Mädchen. Sie sprechen, handeln und fühlen anders und bringen andere Themen in den Einrichtungen ein, als Mädchen das tun. Jungen und Mädchen unterliegen unterschiedlichen Bedingungen, Zuschreibungen und Erwartungen, denen sie sich in einer bestimmten - individuell modifizierten - Weisen anpassen. Dieser lebenslanger Prozeß der Geschlechtszuschreibung ist insofern ein “magischer Sozialisationsprozeߔ5, als sich mit ihm eine Wandlung des institutionellen Unterschiedes (männlich/weiblich) in eine quasi natürliche Unterscheidung vollzieht, die “auf Dauer auf den Leib geschriebene und im Glauben einbeschriebene Wirkungen erzeugt”6. Diesen sozial konstruierten “Geschlechtsdiphormismus” kann man mögen oder nicht: daß es ihn real gibt, muß wohl allgemein anerkannt werden. Leider ist bislang die Konsequenz dieser Überlegungen für die Jungen nicht entfaltet worden. Man tut so, als ob zwar die Mädchen sozialisiert wurde, die Jungen jedoch vom Himmel des Patriarchats gefallen wären.

Für die Konstituierung der geschlechtsspezifische Jungenarbeit bedeutet dies, die Bedingungen des “Mann-werdens” offen zu legen, die Zurichtung spürbar zu machen um sodann gemeinsam nach neuen Wegen zu suchen. Es geht, ich betone es noch einmal, um Jungen und die spezifischen Problem und Symptome, die sich aus dieser Zurichtung ergeben. Aufgabe der Jungenarbeit wäre es, Nähe und Kontakt zu Jungen zu mobilisieren. Es geht um die Hilfestellung bei der Entwicklung einer selbstbestimmten, stabilen männlichen Identität. Es gibt eine Vielzahl an Symptome der Männlichkeit, die als Lösungsversuche für die Zwänge und Konflikte, die in der männlichen Biografie produziert wurden, verstanden werden können. Man denke nur an die nahezu ausschließlich mit männlichen Jugendlichen belegten Jugendvollzugsanstalten oder an andere bekannte “Jugenddevianzen” wie Gewalt, Aggression oder eben Sexismus. Jungen haben gelernt die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen und die daraus resultierenden Konflikte in sich zu verlagern.

Ich habe hierfür den Begriff des maskulinen Syndroms eingeführt7. Das maskuline Syndrom faßt die verschiedenen Symptome der Männlichkeit begrifflich zusammen und akzentuiert die Verbindung der männlichen Devianzen zu der als Zurichtung beschriebenen Sozialisation des Mannes. Aufgabe der emanzipatorischen Jungenarbeit ist es, die unreflektiert an den Symptomen der Männlichkeit orientierten Pädagogik gegen eine spezifische, parteiliche und empatische Zuwendung einzutauschen, die an die Ursachen der beobachteten Symptome zu gelangen sucht. Dies ist relativ einfach, wenn z.B. die Codierung der Jungensätze in Außensätze verstanden wird und gemeinsam mit den Jungen aufgelöst wird. Das methodische Prinzip der introspektive Wende versucht die in Jungen-Sätzen versteckten emotionalen Botschaften zum Thema zu machen. Es geht der Jungenarbeit nicht um die diskreditierenden Botschaften, sondern um die andere - innere - Seite, die zu dem Satz gehört.

Praxis

Jungenarbeit ist parteilich, empatisch und zärtlich. Die Körperlichkeit der Jungen ist dabei der Dreh- und Angelpunkt. Wer meint, Jungenarbeit könne per Weisung eingeklagt oder erzwungen werden, hat vergessen, wie lange der Weg etwa zur Mädchenarbeit war und wieviel dies von den Pädagoginnen abverlangt hat. Mitarbeiter die diese Arbeit machen wollen, dürfen sich Zeit und Raum nehmen, müssen dies tun, soll eine spezifische, empatische und die Jungen erstnehmende Pädagogik dabei entstehen. Die schwierige und paradoxe Ausgangslage der Männeremanzipation lautet: Männer müßten sensibel sein dafür, zu spüren, wie unsensibel sie sind, müßten körperlich sein, um den Schmerz über ihre Körperlosigkeit zu fühlen und lustvoll genug, um das Fehlen ihrer wirklichen Lust zu empfinden. Jungenarbeit ist prozeßorientiert - Prozeße entstehen nicht, wenn fachliche Weisungen davon sprechen, sondern wenn wir uns den Jungen zuwenden.

Es gibt für die emanzipatorische Arbeit mit Jungen verschiedene Hürden, die die Arbeit verhindern, erschweren und blockieren. Hierzu gehört u.a. die Orientierung an der Externalität der männlichen Klientel, die jedoch nicht als Folge, sondern als Ursache des “Patriarchats” gedacht wird. Erst, wenn wir begreifen, daß Jungen produziert und genau so gewollt sind, wie sie sind, werden wir Zugänge zu den Jungen bekommen, die eine Veränderung ermöglichen.

Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille: parteiliche Mädchenarbeit & antisexistische Mädchenarbeit; Abschlußbericht des Modellprojektes; Frille (Selbstverlag); o.J.

ebenda, S.101

vgl. ausführlich: Schenk, M.: Warum Jungenarbeit? Zur Begründung von emanzipatorischer Jungenarbeit: eine Kritik am Konzept der antisexitischen Jungenarbeit und einige Beispiele für eine Alternative; Päd Extra 1/93

HVHS (s.o.)

Bourdieu, P.: Sozialer Sinn - Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1987, S.107f.

ebenda

Schenk, M.: Emanzipatorische Jungenarbeit im Freizeitheim - Zur offenen Jungenarbeit mit Unterschichtsjugendlichen; in: Winter, R./Willems, H.: Was fehlt, sind Männer! Schwäbisch Gmünd und Tübingen 1991

home Inhaltsverzeichnis Quelle: Forum der Kinder- und Jugendarbeit - Vereinskurier 1/1995

Onlinequelle: http://people.freenet.de/M.Schenk/sexismus.htm

Gruß
IBGM


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