Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Demokratie

Beatrix, Thursday, 11.07.2002, 04:07 (vor 8553 Tagen) @ Rüdiger

Als Antwort auf: Re: Service ;-) von Rüdiger am 09. Juli 2002 23:56:07:

Hallo Rüdiger!

Mein neuer Browser ist mir mal eben abgestürzt, jetzt verwend ich zur Abwechslung mal Microsoft. Ich hoffe, es geht gut. *seufz*

Ich hab mir Deinen Beitrag noch mal durchgelesen, und finde nicht, daß wir da besonders konträr denken.

Ich schrieb:

Je mehr Menschen diese Form des Machtspiels ablehnen und sich stattdessen auf Demokratie einlassen, desto schneller werden sich demokratische Strukturen, wird sich Kooperation und verbesserte Kommunikation verbreiten.

Du bist offensichtlich Anhängerin der Konsensdemokratie. Es liegt wohl an meinem Naturell, aber beim Gedanken daran kommt bei mir wenig Freude auf; ich stelle mir darunter endlose Palaverrunden vor, so ein betulich-onkelhaft-predigerhaftes Johannes-Rau-"WirinNRW"-Gefühl, das um des Konsenses Willen die wahren Probleme aussitzt und dann hinterher noch schlimmer macht.

Du hast mich mißverstanden.
Die wahren Probleme aussitzen oder unter den Teppich kehren will ich gerade nicht. Dein folgendes Beispiel zeigt sehr gut, daß wir da einer Meinung sind:

Beispiel Steinkohlenbergbau: Eigentlich hätte man damit schon viel früher Schluß machen sollen, denn im Grunde stand doch schon 1970 fest, daß die teure deutsche Steinkohle keine Chance hat gegen die billige Tagebau-Steinkohle aus USA oder sonstwoher.

Eben drum. Und genau das hätte man ganz sachlich aussprechen sollen. Und den Protest der Bergleute ernst nehmen, deren Arbeitsplätze gefährdet waren. Und ihnen einen Ersatz anbiten, wie es ja auch inzwischen geschieht, nur leider mit jahrelanger Verspätung und unnötig verschleudeten Steuergeldern.

Diese Grüppchen-Mentalität, die Du favorisierst

Nein, das tue ich nicht. Ich favorisiere keine Grüppchen-Mentalität und v.a. favorisiere ich keinen Lobbyismus, ich möchte nur, daß man die Menschen mit ihren Sorgen und Nöten ernst nimmt und daß man gemeinsam zu Lösungen kommt.

und die Schwimmbad nur harmlos-ärgerlich sein mag, ist wirtschaftspolitisch verheerend, denn sie sorgt u. a. dafür, daß unser Steuerrecht mit seinen zahllosen Ausnahmetatbeständen so überkompliziert ist, wie es ist; um das wegzukriegen, braucht man jemanden, der im Gegensatz zu Dir furchtlos genug ist, allen möglichen Interessengruppen etwas WEGZUNEHMEN, damit letzten Endes ALLE gewinnen: durch einen klaren, einfachen und durchschaubaren Steuertarif.

Genau darum geht es mir ja, daß im Endeffekt alle gewinnen. Dazu muß jede/r bereit sein, mal hier und da zurückzustecken und muß jede/r das große Ganze im Auge behalten. Das Gemeinwohl muß höher gestellt werden als das des Einzelnen.

Im Falle der Bergleute hätten diese eben eine Mehrheitsentscheidung gegen den Fortbestand einer aussterbenden Technologie hinnehmen müssen. Man hätte längst in die Produktion alternativer nachwachsender Energiearten einsteigen können. Um es denen, die von einem Mehrheitsbeschluß Nachteile in Kauf nehmen müssen, leichter zu machen, hätte man sich gleich um Umschulungsmaßnahmen und den Aufbau neuer Technologien und die Schaffung neuer, sinnvoller Arbeitsplätze bemühen sollen.
Das wäre im Interesse ALLER gewesen.

Noch mal Adenauer: "Ich weiß jetzt, warum die 10 Gebote so klar, eindeutig und unmißverständlich sind. Sie sind nämlich nicht auf einer Konferenz beschlossen worden." Insofern betrachte ich die Wischi-Waschi-Regelungen auf kleinstem gemeinsamem Nenner zwar als demokratisch, aber im Interesse der Sache nicht unbedingt wünschenswert, eher als in Kauf zu nehmendes Übel, wenn man halt nicht in einer Diktatur leben will.

Was veranlaßt Dich, demokratisch gefaßte Beschlüsse für Wischi-Waschi zu halten? Und wie kommst Du darauf, daß ausgerechnet diese diktatorischer sind als eigenmächtige Entscheidungen von Einzelpersonen? Findest Du das nicht selber unlogisch? Wenn Du, wie du oben schriebst, einen einzelnen Entscheidungsträger möchtest- "um das wegzukriegen, braucht man jemanden, der im Gegensatz zu Dir furchtlos genug ist, allen möglichen Interessengruppen etwas WEGZUNEHMEN" - was ist der denn anderes als ein Diktator?

Da man nun einmal im Leben nicht zwei einander widersprechende Vorstellungen gleichzeitig durchführen kann, muß es manchmal trotz aller Kompromißsuche Kampfabstimmungen geben, und die Demokratie steht dann wie jede andere Regierungsform vor der Notwendigkeit, den Willen eines großen Teiles des Volkes einfach zu ignorieren, so betrüblich das für die Überstimmten auch sein mag.

Genau so ist es. Und damit diese nicht unzufrieden sind und für Aufruhr sorgen, brauchen wir eine Mentalität, die auch Enttäuschungen verkraftet, also eine höhere Frustrationstoleranz. Und v.a. brauchen wir rein sachliche Argumentationen ohne Polemik, damit sich alle frei entscheiden können.

Der EU kann man nur beitreten oder eben nicht beitreten, alles Dazwischen (Assoziierung) ist eine halbgare Sache, die Todesstrafe lehnt man entweder ab oder man befürwortet sie (einen Menschen halb zu köpfen dürfte schwer möglich sein), den Euro führt man entweder ein oder läßt es bleiben - ein bißchen Euro dürfte so unmöglich sein wie "ein bißchen schwanger".

Klar doch. Und wenn man einmal was beschlossen hat, sollte es auch umgesetzt werden. Was aber nicht heißt, daß man es dann kritiklos hinnimmt. Alle praktischen Umsetzungen von Beschlüssen sollten regelmäßig auf ihre Effektivität hin überprüft werden. Damit man sie ggfs. korrigieren kann.

Politik ist das geduldige Bohren harter Bretter, und das heißt auch: Harter, zäher KAMPF, Kampf um jeden einzelnen Menschen, um jedes Menschen Geist.

Warum? Ich bin nicht der Teufel, der hinter der armen Seele her ist. Jeder Mensch muß für sich selbst entscheiden, wo er hin will und welche politische Gruppe ihm am besten zusagt.

Würdest Du das auch sagen, wenn wir jetzt z. B. in den Fünfziger-Jahre US-Südstaaten wären und es um die Aufhebung der Rassentrennung ginge? Bei so was muß mit allen Mitteln gearbeitet werden: Prozesse vor Gericht, geduldige Überredung, der wie ein Landregen die Gemüter der hartnäckigen Gegner aufweicht und sie zermürbt, Demos, ziviler Ungehorsam, bis der rassistische Gegner als Bettvorleger vor einem liegt ;-). Ich weiß, daß diese Formulierung Dich entsetzen wird, aber gerade deswegen schreibe ich das: weil es manchmal nur mit enormer Zähigkeit und Hartnäckigkeit geht, mit dem Willen, sich DURCHZUSETZEN.

Das sehe ich vollkommen anders. Was man zuallererst braucht, ist echtes demokratisches Denken. Wenn man das erst mal hat- und wir sind leider derzeit weiter davon entfernt als früher mal - dann kommt der Rest fast von selbst. Da es einen solchen Geist damals zur Zeit der Rassentrennung noch nicht gab, sehe ich ein, daß es ohne Zermürbung der Rassisten nicht gegangen ist. Aber ich finde, es sollte nicht darum gehen, sich durchzusetzen, sondern wirklich zu überzeugen. Erst wenn das auch gelungen ist, kann man von erfolgreicher Rassenintegration sprechen. Da die Aufhebung der Rassendiskriminierung leider zwangsverordnet war, sind viele bis heute noch nicht einsichtig. Dementsprechend schlecht ist die soziale Lage der Schwarzen.

Oder wie kann man ein allgemeines Verbot von Landminen durchsetzen? Etwa durch sanfte Kompromißbereitschaft gegenüber der Waffenlobby, indem man sich bemüht, auch ihre Vorstellungen mit einzubeziehen (und dadurch das gute Ziel aufweicht und wertlos macht)? Mit Sicherheit nicht!

Doch. Biete der Waffenlobby was anderes an. Nur eigentlich hat die Waffenlobby dabei gar nicht mitzureden. Wen in einem demokratischen politischen Gremium auf oberster Ebene gegen Landminen entschieden wird, hat sie sich zu fügen.

Besetzung bedeutet Unfreiheit! Mir sind Machtpolitiker aller Art absolut zuwider. Ich lehne deren Vorgehen 100%ig ab, finde es menschenverachtend. Und ich will nicht irgendwo die Mehrheit, ich will einen Gruppenkonsens. Das ist viel demokratischer!

Wenn dieser Consensus omnium aber eine Wischi-Waschi-Regelung ist, die zu nichts nütze ist und im Endeffekt sogar schadet? Gruppe A sagt, Gesamtschule ist prima, Gruppe B sagt, Dreigliedriges Schulsystem ist prima, also würdest Du einen Kompromiß aushandeln.

Nein, würde ich nicht automatisch. Ich würde einen Beschluss herbeibringen wollen, dem alle zustimmen können. Das kann ein Kompromiß sein, muß aber nicht. Jedenfalls nicht in der Form, daß die ursprünglichen Konzepte dadurch aufgeweicht werden.
Um bei deinem Beispiel zu bleiben: momentan existieren beide Schulformen nebeneinander und Schüler und Eltern können selber entscheiden, welche Form für das jeweilige Kind am besten geeignet ist. Das nenne ich Wahlfreiheit und Pluralität der Schulformen.

Und wenn sich nun herausstellt, daß dieses Kompromißsystem schlechtere Lernerfolge erzielt als jedes der "reinen" Systeme? Also ich würde dann eine Kampfabstimmung herbeiführen und den ungesunden Kompromiß beenden.

DU würdest das? Und wer wärest Du dann, in diesem Falle? WER möchtest Du sein, daß du selbstherrlich entscheidest, welches Schulformsystem man einfach absetzen soll?
Nach meiner Vorstellung könntest du Deine Bedenken anbringen und ausgiebig erläutern und würdest dann, wenn wirklich echte Demokraten im Gremium säßen, vielleicht genügend Leute überzeugen, so daß sich eine Mehrheit für die Abschaffung findet. Nur sollte deine kritik dann rein sachlich und ohne jede Polemik sein.

Man kann nicht gleichzeitig für A und für B sein. Dann laß doch 51 % für A sein, dann ist die Sache ausgestanden - bei so wichtigen Sachen wie Dänemarks Beitritt zum Maastricht-Vertrag war's auch so knapp!

Natürlich, das kann so vorkommen. Hab ich auch kein Problem mit.

Wo ich massive Probleme mit habe, das sind Profitgier und Profilierungssucht und Lobbyismus und Polemik in Entscheidungsgremien. Die haben da nichts zu suchen.
Je mehr es davon gibt, desto unglaubwürdiger werden diejenigen, die sowas einsetzen.
Das ist einfach bar jeder Vernunft.
Wenn man schon Kindergartenkindern beibringt, daß das Gemeinwohl wichtiger ist als das des Einzelnen, daß man manchmal teilen muss oder sich abwechseln, daß man auch mal verzichten muß oder andere vorlassen, daß man aber auch mal was für sich allein haben darf, daß man seine Fähigkeiten in den Dienst der anderen stellen sollte und denen, die Hilfe brauchen, zur Seite stehen sollte, daß man seine Mitmenschen ernst nehmen und die Bedürfnisse anderer gleichberechtigt neben den eigenen stehen lassen sollte - warum schaffen es dann erwachsene Menschen nicht, sich auf diese Weise vernünftig zu verhalten? Sie benehmen sich wie die Kleinstkinder, die es noch nicht besser wissen und die mit Schrei- und Trotzanfällen meinen ihren Willen durchsetzen oder die Eltern gegeneinander ausspielen zu können. Nur im Gegensatz zu diesen Kleinkindern müßten die Politiker und Wirtschaftsbosse es schon besser wissen. Sie benehmen sich aber, als sei die ganze Welt eine einzige große Spielwiese zu ihrem Vergnügen. :-(

ciao
Beatrix



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