Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Re: Markt und Moral

Paul, Saturday, 05.06.2004, 16:39 (vor 7276 Tagen) @ Manfred

Als Antwort auf: Re: Markt und Moral von Manfred am 04. Juni 2004 20:15:56:

Ich muß mich jetzt mal wieder einmischen, denn ich fürchte, ich wurde gründlich missverstanden. Ich bin nämlich sehr wohl fuer INDIVIDUELLE Freiheit. Das hat mit Neoliberalismus - bzw. das, was unter diesem Begriff verstanden wird, nichts zu tun.

Ich hätte vermutlich nicht den Begriff Neoliberalismus verwenden sollen. Ich halte diesen selbst für unpassend. Der richtige Ausdruck wäre vielmehr: Dogmatischer (Ultra-)Wirtschaftsliberalismus. Gespeist von einem religoesen Glauben an bestimmte Markttheorien, wie z.B. Adam Smiths "Invisible Hand" oder der EMT (Efficient Market Theory) wird die Auffassung vertreten, der Markt sei das perfekte Regulationsinstrument für alle Bereiche und Belange menschlichen Lebens und gesellschaftlicher Strukturen. Das ist aus mehreren Gründen Unsinn. Da die Thematik extrem umfangreich ist, möchte ich nur mal zwei Einwände anreissen:

1. Es besteht ein Unterschied zwischen Freiheit von Indidividuen und der Freiheit von Unternehmen. Unternehmen sind nämlich nichts anderes als Kollektive. Es ist richtig, dem Staat Macht und Kontrolle über unser Leben wegzunehmen, welches er sich - m.E unverdient - angeeignet hat. Man treibt aber den Teufel mit dem Beelzebub aus, wenn diese Macht nicht zu den Bürgern fliesst, sondern zu den Konzernen. Der Staat mag das kälteste aller Wesen sein, Konzerne sind kälter. Das ist kein Vorwurf; natürlich müssen sie primär profitorientiert arbeiten. Das Problem ist nur, daß sie, wenn sie die Macht dazu haben, dadurch die Freiheit des Bürgers immer weiter einschränken. Man denke nur an die Problematik der Softwarepatente. Hält dieser Trend weiter an, so wird es irgendwann keine Startups oder kleinere Entwickler mehr geben; einfach deshalb, weil diese ohne eine komplette Mannschaft an Juristen im Hintergrund praktisch schon mit einem Bein im Knast stehen werden. In letzter Konsequenz - wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher - wird sich der "Neoliberalismus" als etwas ganz anderes entpuppen: Als Neofeudalismus. Nur daß die Feudalherren der Zukunft nicht mehr über Ländereien gebieten, sondern über Know-How.

2. Die Bezeichnung der EMT oder der "Insible Hand" als Dogmen mag zum Aufschrei so manche Volkswirtschaftler führen. Leider ist es so, daß jüngere Forschungen mehr und mehr zeigen, auf welche tönernen Füssen diese Theorien stehen. Wirtschaft ist ein unglaublich komplexes System; alle Theorien die wir darüber aufstellen können, sind bisher nicht mehr als äusserst krude Näherungen an die Wirklichkeit. Ein Schluß aus der Theorie der "Invisible Hand" ist ja, daß ein Markt, der aus Teilnehmern besteht die aus purem Egoismus getrieben werden, das beste aller Regulationsinstrumente darstellt und letzlich zum größten Nutzen aller Marktteilnehmer führt. Nun zeigt uns die Spieltheorie (die jüngenden Datums ist als die Theorien Smiths, leider aber von den Neoliberalisten geradezu leidenschaftlich ignoriert wird) aber z.B. inzwischen daß es vielfach Szenarien gibt, in denen eben gerade unter Wettbewerbsbedingungen KEIN optimales Ergebnis für alle Beteilgten entstehen kann.
Ebenso verhält es sich mit der EMT; diese Theorie ist so schlecht, es ist beinahe unglaublich, daß sie so große Akzeptanz gefunden hat. Unglaublich schlecht deshalb, weil sie nämlich selbstwidersprüchlich ist. Und dieser Selbstwiderspruch ist absolut offensichtlich: Wenn die Finanzmärkte wirklich effizient wären, würde niemand an den Märkten "aktiv" handeln, was aber dann dazu führen würde, daß sie nicht effizient wären, usw. Die logische Konsequenz daraus ist, daß Märkte immer nur "relativ" effizient sein können, wobei der Grad der Effizienz allerdings schwankt und nur sehr schwer bestimmbar ist - sie oszillieren auf einer unvorhersehbaren Bahn zwischen Effizienz und Ineffizienz.

All dies ist den "Praktikern" der Märkte längst bekannt. George Soros, um nur einen zu nennen, steht ja schon seit langem auf Kriegsfuss mit den Wirtschaftsprofessoren in ihren Elfenbeintürmen. Wie grotesk mutet es an, daß diese ihm vorwerfen, er verstünde nichts von Wirtschaft! Wohlgemerkt: Wir sprechen hier von einem Mann, der durch seine Spekulationen mehrfacher Milliardär wurde und den erfolreichsten Hedgefonds aller Zeiten gemanaged hat.

Aber nun wieder den Bogen zurück zum Thema: Was hat dies mit dem TV-Programm zu tun? Viel. Fernsehsender sind eben Unternehmen. Und gab es früher noch eine Unternehmenskultur, in der auch ein gewisser Idealismus gepflegt wurde, so regiert heute eben nur noch Profitdenken. Profitdenken ist natürlich prinzipiell erstmal nichts negatives; jeder soll soviel verdienen wie er will. Aber eben nicht um jeden Preis. Das Profitdenken muss seine Grenzen finden, und zwar moralische Grenzen. In der einfachen, ja primitiven "heilen" Wirtschaftswelt der Neoliberalisten hat Moral aber keinen Platz, weil eben der Markt als DAS perfekte Regulationsinstrument begriffen und jedes andere Regulationsinstrument als "Störfaktor" abgelehnt wird. Aus dem Markt alleine kann aber kein moralisches Handeln entstehen; denn Märkte sind vollkommen amoralisch (nicht unmoralisch!), sie müssen es sein, um funktionieren zu können.

Gruß,
Paul

Was den evolutionshistorischen Abriss angeht, kann ich Dir zustimmen, aber nicht in den Folgerungen.

Historisch ist diese Entwicklung verständlich.. nachdem jahrelang die Komponente der Sicherheit und Geborgenheit überbetohnt wurde (autokratische/diktatorische Staatssysteme in den letzten Jahrhunderten)

kommt den Leuten die Idee der absoluten Freiheit , Nichtverantwortung, nur Spass haben wollen usw wie eine Erlösung vor.<
Wer weiß, von der "absoluten Freiheit" oder vom "Ultraliberalismus" sind wir -so meine Überzeugung- jedenfalls noch unendlich weit entfernt.

Hiess es früher noch "Du bist nichts, dein Volk ist alles"...<

Ich glaube das heißt es noch immer, zumal aus Kreisen der Führungsrige!
Der Einzelne hat aber als Gegengewicht zum deutschen "Terror des Allgemeinsinns" Mut gefaßt, sich ein bisschen mehr Freiheit zu erlauben.

heisst es heutzutage "Du bist alles dein Volk[Mitmenschen] ist nichts[/link]
Was dabei herauskommt ist -u.a.- im Fernsehen zu betrachten.<

Den Schluss halte ich für sehr einseitig und willkürlich. Wir entdecken den Liberalismus erst zaghaft, multimedialer Nonsens ist leider auch eine Blüte daraus, aber das sehe ich eher als eines der weniger erfolgreichen Experimente im Umgang mit Freiheit. Mehr ist es nicht.
Was das Verhältnis der Menschen untereinander angeht, glaube ich, dass nichts das Klima mehr vergiftet als die Unfreiheit. Grade der Glaube "ist ja mein gutes Recht, den anderen anzuzeigen" ist es, der das Klima kaputt macht und jeden Versuch einer zwischenmenschlichen Aussöhnung als unwürdige Mauschelei betrachten läßt.
Den Staat brauchen wir zur Ahndung von Mord und Totschlag, für die großen Rahemngesetzgebungen, aber nicht, damit er dem Kleinkind vorschreibt, wieviel Profil die Bereifung seines Dreirades haben muß. ;-)
Schöne Grüße,
Manfred


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