Vorstellungsinflation
Wenn im Experiment eine Suggestion falsche Kindheitserinnerungen einzupflanzen vermag, muß man sich
fragen, ob dasselbe auch außerhalb von Versuchssituationen gilt - etwa für ein Verhör oder eine psychotherapeutische
Sitzung. Massive Beeinflussung durch Polizisten oder Therapeuten dürfte zwar die Ausnahme sein, doch
das dringliche Ersuchen, sich eine bestimmte Situation in allen Einzelheiten zu vergegenwärtigen, kommt
öfters vor. Wenn Untersuchungsbeamte einen Verdächtigen zu einem Geständnis bewegen wollen, konfrontieren
sie ihn mitunter mit Möglichkeiten, wie er an der fraglichen Straftat beteiligt gewesen sein könnte;
und manche Therapeuten ermutigen ihre Klienten, sich bestimmte Kindheitsereignisse auszumalen, um vermeintlich
verdrängte Erinnerungen freizulegen (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1997, Seite 62).
Überblicksstudien zur Methodik klinischer Psychologen ergeben, daß 11 Prozent von ihnen die Klienten
anweisen, "der Phantasie völlig freien Lauf zu lassen", und 22 Prozent, sie sollten "ihrer Phantasie
die Zügel schießen lassen". Die amerikanische Therapeutin Wendy Maltz plädiert in einem in den USA populären
Buch über Kindesmißbrauch (deutsch als Rowohlt-Taschenbuch unter dem Titel "Sexual Healing - Ein sexuelles
Trauma überwinden") dafür, den Patienten zu sagen: "Nehmen Sie sich Zeit für die Vorstellung, man habe
Sie sexuell mißbraucht, ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob es genau so stimmt oder nicht.
Sie brauchen nichts zu beweisen, und Ihre Vorstellungen brauchen auch keinen Sinn zu ergeben... Fragen
Sie sich: Welche Tageszeit ist es in Ihrer Vorstellung? Wo sind Sie? Drinnen oder draußen? Was passiert?
Sind Sie mit einer oder mehreren Personen zusammen?" Wendy Maltz empfiehlt dem Therapeuten außerdem
Fragen wie: "Wer könnten die Täter sein? Wann in Ihrem Leben war die Gefahr eines sexuellen Mißbrauchs
am größten?" Weil solche Phantasieübungen immer häufiger eingesetzt werden, begannen mehrere Kollegen
und ich über die Konsequenzen nachzudenken. Was geschieht, wenn sich jemand Kindheitserlebnisse ausmalt,
die er nie gehabt hat? Verstärkt das bloße Vorstellen einer Erfahrung die Überzeugung, sie sei echt?
Um das herauszufinden, wählten wir ein dreistufiges Verfahren. Zunächst sollten die Versuchspersonen
angeben, wie wahrscheinlich sie es fänden, daß ihnen bestimmte Dinge in ihrer Kindheit zugestoßen seien;
dazu mußten sie 40 Ereignisse auf einer Skala von "ist eindeutig nicht geschehen" bis "ist eindeutig
geschehen" anordnen. Nach zwei Wochen baten wir sie, sich jeweils einige Ereignisse vorzustellen; dabei
wählten wir solche aus, die sie nach ihrer früheren Auskunft gar nicht erlebt hatten. Einige Zeit später
wurden die Probanden noch einmal aufgefordert, die ursprüngliche Liste von 40 Kindheitserlebnissen nach
deren Wahrscheinlichkeit zu bewerten.
In einer dieser Phantasieübungen sollte die Versuchsperson sich zum Beispiel vorstellen, sie hätte zu
Hause gespielt, draußen ein merkwürdiges Geräusch gehört, sei zum Fenster gelaufen, gestolpert, gefallen
und hätte mit der vorgestreckten Hand die Fensterscheibe zerbrochen. Dabei stellten wir Fragen wie:
"Worüber sind Sie gestolpert? Wie fühlten Sie sich dabei?"
In einer Studie gaben 24 Prozent der Teilnehmer, die sich in diese Szene versetzt hatten, später eine
erhöhte Wahrscheinlichkeit dafür an, daß sie das alles selbst erlebt hätten; hingegen meinten das nur
12 Prozent derjenigen, die man nicht aufgefordert hatte, sich die Geschichte mit der Fensterscheibe
vorzustellen. Diese Vorstellungsinflation (imagination inflation) erreichten wir mit allen acht Ereignissen,
die wir den Teilnehmern als Phantasieübung aufgaben (Bild 4).
Für diesen Effekt kommen mehrere Gründe in Frage. Offensichtlich wird einem ein intensiv vorgestelltes
Ereignis scheinbar vertrauter, und diese Vertrautheit bringt man dann irrtümlich mit Kindheitserinnerungen
in Verbindung statt mit dem Vorstellungsakt. Eine solche Quellenverwechslung - bei der man sich nicht
mehr an die Herkunft der Information erinnert - ist in Zusammenhang mit den entlegenen Ereignissen der
Kindheit oft besonders ausgeprägt.
Lyn Goff und Henry L. Roedinger III von der Washington-Universität in Saint-Louis (Missouri) haben statt
Kindheitserlebnissen aktuelle Erfahrungen untersucht und einen direkteren Zusammenhang zwischen imaginierten
Handlungen und Erinnerungsfälschungen hergestellt. In der ersten Sitzung beschrieb man den Teilnehmern
bestimmte einfache Tätigkeiten - auf den Tisch klopfen, einen Hefter hochheben, einen Zahnstocher zerbrechen,
die Finger kreuzen, mit den Augen rollen - und gab ihnen nun entweder auf, die Handlung wirklich auszuführen,
sie sich nur vorzustellen oder bloß passiv der Beschreibung zu lauschen. In der zweiten Sitzung sollten
die Versuchspersonen sich einige der zuvor nicht ausgeführten Tätigkeiten vorstellen. In der letzten
Sitzung wurden sie schließlich gefragt, welche Handlungen sie in der ersten Sitzung tatsächlich getätigt
hätten. Dabei zeigte sich: Je öfter die Teilnehmer eine nicht ausgeführte Handlung imaginiert hatten,
mit desto größerer Wahrscheinlichkeit bildeten sie sich später ein, sie zuvor auch wirklich ausgeführt
zu haben.
Unmögliche Erinnerungen
Daß ein Erwachsener sich an echte Episoden aus seinem ersten Lebensjahr zu erinnern vermag ist höchst
unwahrscheinlich - unter anderem, weil der für das Langzeitgedächtnis besonders wichtige Hippocampus
noch nicht genügend ausgereift ist. Nicholas Spanos und seine Mitarbeiter an der Carleton-Universität
in Ottawa (Kanada) suchten absichtlich solch unmögliche Erinnerungen zu erzeugen: Sie suggerierten den
Versuchsteilnehmern, besonders gute Augenkoordination und visuelle Wahrnehmungsfähigkeit zu haben, weil
in den ersten Tagen nach ihrer Geburt ein buntes Mobile über dem Säuglingsbett gehangen hätte.
Um das vermeintliche Erlebnis wachzurufen, versetzte man die eine Hälfte der Probanden unter Hypnose
bis zum ersten Tag ihres Lebens zurück und fragte sie, woran sie sich erinnerten. Die andere Hälfte
nahm an einer sogenannten gelenkten Gedächtnis-Umstrukturierung teil, bei der die Versuchspersonen ins
frühkindliche Stadium regredieren und damalige Erfahrungen in der Vorstellung neu durchleben sollen
(Bild 5).
Die allermeisten Teilnehmer sprachen auf diese Gedächtnisfälschungen an. Sowohl die hypnotisierten als
auch die gelenkten berichteten von postnatalen Erlebnissen - letztere sogar etwas häufiger (95 gegenüber
70 Prozent). Ziemlich viele Mitglieder beider Gruppen meinten sich an das bunte Mobile zu erinnern:
56 Prozent der gelenkten, 46 Prozent der hypnotisierten; die übrigen erzählten dafür häufig von Ärzten,
Krankenschwestern, hellem Licht, Säuglingsbetten und Gesichtsmasken. In beiden Gruppen waren 49 Prozent
der Personen, die von frühkindlichen Erlebnissen berichteten, von deren Echtheit überzeugt, während
nur 16 Prozent meinten, dabei handle es sich um pure Phantasien.
Auch diese Resultate bestätigen, daß man vielen Menschen auf relativ einfache Weise komplexe, lebhafte
und detailreiche Erinnerungstäuschungen einzuprägen vermag. Offensichtlich ist Hypnose dafür gar nicht
nötig.
Die Produktion von Erinnerungstäuschungen
Das Erzeugen einer falschen Erinnerung - etwa an Verlorengehen im Supermarkt - funktioniert, wenn jemand
anderer, meist ein Familienmitglied, behauptet, das Ereignis habe wirklich stattgefunden. Die Bestärkung
durch einen vermeintlichen Augenzeugen ist ein wirksames Täuschungsmittel. Oft genügt schon die Behauptung,
der Betreffende sei bei einer Tat gesehen worden, um ihn zu einem falschen Geständnis zu verleiten.
Diesen Effekt hat Saul M. Kassin am Williams-College in Williamstown (Massachusetts) demonstriert, indem
er Personen fälschlich beschuldigen ließ, sie hätten durch Drücken einer bestimmten Tastenkombination
einen Computer ruiniert. Anfangs wiesen die nichtsahnenden Teilnehmer den Vorwurf zurück; doch als eine
Verbündete des Versuchsleiters behauptete, sie habe das Drücken der falschen Tasten genau gesehen, unterschrieben
viele sogar ein Geständnis, entwickelten Schuldgefühle und erfanden mit der Zeit zu der vermeintlichen
Tat passende Umstände. Demnach lassen Menschen sich durch fingierte Indizien dazu bringen, die Schuld
für eine nie begangene Tat zu übernehmen; sie schmücken sogar die falschen Erinnerungen mit Details
aus, die sie in ihren Schuldgefühlen bestärken.
Allmählich zeichnet sich ab, auf welche Weise bei Erwachsenen komplette, gefühlsbesetzte und aktiv ausgeschmückte
Erinnerungstäuschungen erzeugt werden können: Erstens wird entsprechender sozialer Druck ausgeübt -
beispielsweise schon dadurch, daß ein Versuchsleiter von den Teilnehmern verlangt, überhaupt etwas aus
dem Gedächtnis mitzuteilen. Zweitens werden Menschen, denen das Erinnern schwerfällt, ausdrücklich ermuntert,
sich bestimmte Ereignisse vorzustellen; und schließlich ermutigt man sie, nicht über deren Realitätsgehalt
nachzudenken. Wenn diese äußeren Faktoren zusammenwirken, treten täuschend echte Erinnerungen besonders
leicht auf - nicht nur in experimentellen, sondern auch in therapeutischen oder ganz alltäglichen Situationen.
Das Konstrukt entsteht demnach aus der Kombination echter Erinnerungen mit Fremdsuggestionen. Dabei
vergessen die Betroffenen oft, woher die Information stammt - ein klassisches Beispiel für Quellenverwechslung:
Inhalt und Herkunft der Information fallen auseinander.
Daß man manchen Menschen fiktive Kindheitserlebnisse einzuprägen vermag, bedeutet gewiß nicht, daß alle
Gedächtnisinhalte, die unter Suggestion auftauchen, zwangsläufig falsch seien. Die Experimente stellen
zwar die Gültigkeit lange verschütteter Erinnerungen - beispielsweise an wiederholte traumatische Erfahrungen
- in Frage, doch sie widerlegen sie keineswegs völlig. Doch ohne Bestätigung durch zusätzliche Fakten
vermag selbst der erfahrenste Gutachter echte Erinnerungen kaum von suggerierten zu unterscheiden.
Wie solche Täuschungen im einzelnen entstehen und woran man sie erkennt, wird künftig noch genauer zu
untersuchen sein. Auch müssen wir herausfinden, welche Persönlichkeitstypen für diese Suggestionen besonders
anfällig beziehungsweise dagegen resistent sind. Die bisherigen Resultate sollten jedenfalls eine Warnung
sein: Vor allem Psychotherapeuten müssen stets bedenken, wie stark sie das Gedächtnis ihrer Klienten
beeinflussen können und wie dringend nötig Zurückhaltung gerade in Situationen ist, in denen man vermeintlich
verdrängte Geschehnisse durch freies Schweifen der Einbildungskraft zutage zu fördern sucht.
Literaturhinweise
Weiße Handschuhe. Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt. Von John Kotre. Hanser Verlag, München 1996.
Fehldiagnose: Sexueller Mißbrauch. Von Michael D. Yapko. Knaur Verlag, München 1996.
Die therapierte Erinnerung. Vom Mythos der Verdrängung bei Anklagen wegen sexuellen Mißbrauchs. Von Elizabeth F. Loftus und Katherine Ketcham. Ingrid Klein Verlag, Hamburg 1995.
The Social Psychology of False Confessions: Compliance, Internalization, and Confabulation. Von Saul M. Kassin und Katherine L. Kiechel in: Psychological Science, Band 7, Heft 3, Seiten 125 bis 128, Mai 1996.
Imagination Inflation: Imagining a Childhood Event Inflates Confidence that It Occurred. Von Maryanne Garry, Charles G. Manning, Elizabeth F. Loftus und Steven J. Sherman in: Psychonomic Bulletin and Review, Band 3, Heft 2, Seiten 208 bis 214, Juni 1996.
Remembering Our Past: Studies in Autobiographical Memory. Herausgegeben von David C. Rubin. Cambridge University Press, 1996.
Searching for Memory: The Brain, the Mind, and the Past. Von Daniel L. Schacter. Basic Books, 1996.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1998, Seite 63
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