Die Entstehung einer Millionenzahl
Es geht um über 9 Millionen verbrannte Hexen.
Entstehung, Tradition und Kritik eines populären Mythos
"Neun Millionen Hexen" seien in Europa verbrannt worden, so lautet eine immer wieder zu hörende Quantifizierung, mit der sich Lehrer an Schulen und Hochschulen auseinandersetzen müssen, weil sie durch die Medien in der Öffentlichkeit verbreitet werden. Die Neun-Millionen-Theorie, wie sie hier kurz genannt werden soll, ist von der seriösen Forschung stets zurückgewiesen worden, daher kann man an diesem Beispiel auch Betrachtungen anstellen über die geringe Wirksamkeit des wissenschaftlichen Korrektivs an populären Irrtümern.
..
Am Beginn einer Geschichtsschreibung über die europäische Hexenverfolgung [3] stand ein politischer Zweck:
Interessant.
Während des sogenannten "Bayerischen Hexenkrieges", einer der größten nationalen Aufklärungsdebatten in Deutschland, die 1766 aus dem engeren Umfeld des bayerischen Kurfürsten Max III. Joseph in einem weltanschaulichen Machtkampf bewußt inszeniert worden war, stellte einer der Parteigänger der Aufklärer folgende Frage an den konservativen Klerus:
"Sagen sie mir doch, warum werden jetzt so wenig Hexen verbrannt? Warum haben jetzt die Richter so wenig damit zu tun? Es sind im 15. und 16. Säculo, in einer Zeit von 140 Jahren 30.000 theils Hexen, theils Hexenmeister zum Scheiterhaufen verdammt worden. Jetzt sind diese Trauerspiele ganz selten ...".
Der Verfasser dieser Passage, der katholische Pfarrer Jakob Anton Kollmann (1728-1787) aus der Gegend von Augsburg, der ob seiner Parteinahme nach München berufen und später mit der Leitung des Schulwesens beauftragt wurde, hatte bei der Nennung dieser Zahl nicht an das eigene Territorium gedacht, dessen Aktenüberlieferung man anläßlich der Debatte studiert hatte [7], und auch nicht nur an Deutschland, sondern an die europäische Christenheit.
Das ist natürlich recht wenig bei immerhin 140 Jahren.
Das waren gerade mal 215 pro Jahr in ganz Europa.
Nein, damit war kein Blumentopf zu gewinnen.
Die Zentralfigur der französischen, in gewisser Hinsicht der europäischen Aufklärung, Voltaire (1694-1778), benützte diesen Umstand als wichtiges Argument zur Periodisierung in seinem historiographischen Hauptwerk: Einst Finsternis und Hexenwahn, nun das Licht des Sonnenkönigs und der modernen Wissenschaften. Zur Hervorhebung der Verdienste des Königs erlaubte es sich der Herrscher im Reich des Geistes, die Größe der Hexenverfolgungen auf eine eingängige Zahl anzuheben: Die von Voltaire geschätzten Zahl von 100.000 Hexenhinrichtungen hat die Zeitgenossen beeindruckt und wird bis heute gelegentlich genannt. Entsprechend dem "Esprit" des Erfinders war sie völlig aus der Luft gegriffen.
Das macht doch nichts, die Wirkung war und ist entscheidend.
Nun entfaltete sich das Potenzial einer Lüge.
.. Einen anderen Weg, seine Zeitgenossen zu beeindrucken, wählte der Quedlinburger Stadtsyndikus Gottfried Christian Voigt (1740-1791) [15]. .. In seinem am 19. November 1783 zu Quedlinburg abgeschlossenen Aufsatz "Etwas über die Hexenprozesse in Deutschland" nahm Voigt nach allgemeinen Betrachtungen über den Fortschritt der Wissenschaften wie Voltaire Bezug auf "die Hexenprozesse und die Folter [...], um einleuchtend und überzeugend darzuthun, daß unsere Zeiten mit Recht aufgeklärt genannt zu werden verdienen". Allerdings dauere der Aberglauben fort und es bestehe "wahrlich die Gefahr, in die vorige Barbarei und Unwissenheit zurück zu fallen, und den Ruhm der Aufklärung zu verlieren, wenn wir nicht auf der Hut sind".
.. Um die Gefahr eines Rückfalls in den Hexenwahn kräftig an die Wand zu malen und seine Vorstellung von der unbedingten Notwendigkeit einer weitergehenden Volksaufklärung zu untermauern, kritisiert Voigt die Angabe Voltaires von den als Hexen hingerichteten "Ein hundert tausend Menschen" [18] und stellt eine eigene Berechnung auf der Grundlage des Quedlinburger Archivs an, dessen Verwaltung ihm unterstand. Für die Jahre 1569 bis 1598 habe er hier Akten von 30 Hexenprozessen mit Todesurteilen gefunden. [19] Auf die- [668] ser Basis begann Voigt nun mit seiner Hochrechnung, ausgehend von der Annahme, daß seine Akten unvollständig seien:
"Ich will daher nur annehmen, daß in dem genannten Zeitraume von 30 Jahren zum wenigsten 40 Personen durchs Feuer als Hexen hingerichtet sind; ob ich gleich glaube, daß ich, ohne die Sache zu übertreiben, 60 annahmen könnte. Nach diesem Verhältniß würden nun in jedem Jahrhunderte allher in Quedlinburg ungefährt 133 Personen als Hexen verbrannt worden sein [...]. Seit der Zeit also, da Quedlinburg [...] einen eigenen Staat ausgemacht hat, sind allhier in einem Zeitraum von 650 Jahren wenigstens 866 Menschen um der Hexerei willen zum Scheiterhaufen geführet [worden]." [20]
Ohne den geringsten Beweis für Hexenprozesse außerhalb des Zeitraums zwischen 1569 und 1598 rechnete Voigt Todesurteile mit einem einfachen Dreisatz hoch: Wenn in dreißig Jahren vierzig Hexen verbrannt wurden, dann seien es in hundert Jahren 133 Hexen. Wenn in einem Jahrhundert 133 Hexen verbrannt wurden, dann in 6,5 Jahrhunderten 866 Hexen. [21]
Doch damit nicht genug. Voigt wollte nicht als Lokalhistoriker glänzen, sondern der europäischen Aufklärung einen Dienst erweisen. Daher suchte er nach einem Multiplikator zur Hochrechnung auf europäische Verhältnisse. Als Parameter schienen ihm die Einwohnerzahlen geeignet:
"In Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und England, und überhaupt in dem Theile Europens, welcher seit dem Ausgang des 6. Jahrhunderts sich zur christlichen Religion bekannt hat, sind wenigstens 71 Millionen Einwohner anzunehmen. Wenn nun in einem so kleinen Bezirk Deutschlandes, welcher kaum 11 bis 12000 Menschen fasset, in einem Jahrhunderte auf 133 Personen als Hexen hingerichtet sind; so beträgt dieses in der ganzen christlichen Kirche auf jedes Jahrhundert 858.454, und auf den von mir bezeichneten Zeitraum von elf Jahrhunderten 9 Millionen vierhundert zwei und vierzigtausend neunhundert vier und neunzig Menschen."
Sauber!
Doch Meister Voigt hat noch etwas in petto.
"Wollte ich die unglücklichen Schlachtopfer mitzählen, welche theils vorher, nämlich vom dritten bis zum sechsten Jahrhundert, theils nachher, nämlich noch in dem gegenwärtigen Jahrhunderte, theils im übrigen Europa, als Polen, Schweden, Dännemarck etc. auf eben diese Weise hingerichtet sind; so könnte ich diese Berechnung noch weit höher treiben."
Weit höher!
Da auch die Kirche nicht beständig mit Einfallsreichtum glänzte, bot sie natürlich Angriffsfläche.
Nach der Propagierung der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem l. Vatikanischen Konzil 1870, der "kleindeutschen" Staatsgründung von 1871 und dem Beginn der Bismarckschen Kulturkampfgesetzgebung waren die Bedingungen für eine Rezeption Roskoffs in Deutschland besonders günstig. Dem Hexenthema kam als Extrembeispiel eine hochrangige Bedeutung in der Polemik gegen das Infallibilitätsdogma zu.
Die einflußreichste Stimme gehörte dabei Soldans Schwiegersohn Heinrich Heppe (1820-1879), dem Ordinarius für evangelische Theologie an der gerade erst preußisch gewordenen Universität Marburg. [36] Als Kenner der Literatur wußte Heppe, daß die runden Zahlen Roskoffs auf Voigts Berechnung beruhten.
.. Doch obwohl Heppe diese Berechnung ablehnte, ließ er sich zu einer ähnlich großzügigen Schätzung verleiten: "Andererseits ist hervorzuheben, daß es viele Territorien ... gegeben hat, wo in einem Jahrhundert weit, weit mehr Hexen als im Quedlinburgischen hingerichtet worden sind, weshalb doch die Gesamtzahl der als Hexen und Zauberer Verbrannten immerhin nach Millionen zu beziffern sein mag."
Das ließe sich recht großzügig interpretieren.
Von einer bis neun Millionen ist alles drin.
Lassen wir es gut sein.
Es ging dahin, über die Nazis, die auch zahlenmäßig kräftig hinlangten bis hin zum Feminismus unserer Zeit
Die Botschaft, die Hexenverfolgung sei in Wirklichkeit eine Frauenverfolgung gewesen und diese habe den Holocaust quantitativ weit übertroffen, wurde charakteristischerweise erneut an der Schnittstelle von esoterischem Neuheidentum und Feminismus geboren, wo Autorinnen wie Miriam Simos (Starhawk) ihren Lebensunterhalt mit "magischen" Dienstleistungen bestreiten. [80] Wie im völkischen Feminismus werden hier mit Opferzahlen bis zu 13 Millionen Hexen neue Superlative erzielt, natürlich ohne die Spur eines Beleges, wo nicht nur die Quellen, sondern auch die Sekundärliteratur hinter dem eigenen Wunschdenken verschwindet.
13.000.000
Neuer Rekord!
Und da haben wir noch ein paar bekannte Namen am Ende gefunden.
Eine möglichst hohe Opferzahl erforderte die These einer "Vernichtung der weisen Frauen" durch den frühmodernen Staat, in welcher die zwei Bremer "Sozialwissenschaftler" Gunnar Heinsohn und Otto Steiger die Ehrenreich/English-These mit der eigenen Verschwörungsvorstellung mischen, das "geheime Verhütungswissen" der Hebammen sei ausgerottet worden, um durch möglichst viele Geburten eine Peuplierung der frühneuzeitlichen Fürstenstaaten zu erreichen. Bezüglich der Opferzahlen haben Heinsohn/ Steiger über den Querverweis Diefenbachs Voigts hochgerechnete 9.442.994 verbrannten Hexen wiederentdeckt. Obwohl sie zur Vortäuschung von Seriosität die einschlägige neuere Fachliteratur angaben, sprachen sie 1979 von einer "Vernichtung von Millionen von Frauen."
Das Buch habe ich immer noch und einstmals sogar an den Inhalt geglaubt.
Und wo sind wir heute angekommen?
Die zuletzt von Brady gegebene Schätzung von maximal 40-50.000 Opfern der Hexenverfolgungen sollte solange in Lexikoneinträgen, Zeitungsartikeln und im Geschichtsunterricht verwendet werden, bis weitere Untersuchungen gezeigt haben, ob innerhalb dieser Grenzen eine exaktere Bestimmung möglich ist.
Schön, so viel zur Epoche der Aufklärung.
Irgendwo da (um die 30.000) waren wir schon einmal vor ca. 243 Jahren.