Immer mehr Kinder nehmen schwere Psychopharmaka
Report aus Meinz:
Kinder und Medikamente, das ist ein sensibles Thema. Wir wissen das, haben wir doch vor Jahren über den gefährlichen Einsatz von Psychopharmaka gegen das Zappelphilipp-Syndrom berichtet.
Gerade Eltern wollen für ihre Kinder meist nur das Beste, wollen, dass sie in einer Welt bestehen können, in der Schulstress und Leistungsdruck zum Kinderalltag dazugehören. Trotzdem kann man, so finden wir, nicht vorsichtig genug sein. Und deshalb berichten wir heute über so genannte Neuroleptika.
Das sind Substanzen, die vor allem gegen Symptome wie Wahnvorstellungen, Halluzinationen oder andere Zeichen einer Schizophrenie verschrieben werden. Zum Teil mit beträchtlichen Nebenwirkungen.
An der Universität Köln hat man nun herausgefunden, dass auch immer mehr Kinder und Jugendliche mit Neuroleptika behandelt werden. Tanja Köhler mit den Details.
Bericht:
Selina ist 10 Jahre alt und geht in die 5. Klasse eines Gymnasiums. Sie leidet an einer Aufmerksamkeitsstörung, konnte sich schlecht konzentrieren, war nervös und teilweise aggressiv. Ihre Mutter war verzweifelt:
O-Ton:
[quote]Das ist bei so einem Kind schon schwierig, Zähneputzen zu gehen, sich zu waschen. Ganz normale Tagesabläufe. Aufstehen. Es wird einfach zum großen, großen Problem.«[/quote]
Nach verschiedenen gescheiterten Therapien versuchen es die Eltern mit einem Medikament. Aber Selinas Aggressionen bleiben. Deshalb bekommt sie seit 3 Monaten noch ein zusätzliches Medikament, ein so genanntes Neuroleptikum.
Neuroleptika sind starke Psychopharmaka, die massive Nebenwirkungen haben können. Das Neuroleptikum, das Selina erhält, ist bei Kindern nur zugelassen bei Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit einer IQ-Minderung.
O-Ton, Dr. Gerhard Libal, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie:
[quote]Der schwierige Teil ist, dass es eigentlich nur zugelassen ist für Kinder in einem unteren Bereich der Intelligenz. Selina ist im oberen Bereich der Intelligenz vom IQ her angesiedelt. Insofern war es jetzt eine doch auch eine sozusagen Off-Label-Behandlung, also eine Behandlung außerhalb des Zulassungsbereichs.«[/quote]
Kurzum: Der Arzt verschreibt ein Medikament, das für Selinas Fall gar nicht zugelassen ist und das sie täglich einnimmt.
Wir zeigen unsere Aufnahmen dem Pharmakologen Gerd Glaeske. Seine Einschätzung:
O-Ton, Prof. Gerd Glaeske, Arzneimittelexperte Universität Bremen:
[quote]Ich glaube, dass das eine Behandlung ist, die tatsächlich Experimentiercharakter hat. Und ich glaube, dass das allenfalls eine Behandlung ist, die man einmal kurzfristig tatsächlich im Sinne einmal in einer klinischen Untersuchung erproben sollte, aber nicht im Einzelfall.«[/quote]
Experimente mit Psychopharmaka? Die Kinder- und Jugendpsychiaterin Charlotte Köttgen lehnt eine Behandlung mit Neuroleptika bei Kindern generell ab.
O-Ton, Charlotte Köttgen, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie:
[quote]Neuroleptika wirken immer in der gleichen Weise, sie dämpfen die Erregungszustände, also man versucht damit Aggressionen zu unterdrücken. Das heißt, ein Kind wird ruhiger, wird umgänglicher, aber man behandelt nicht gleichzeitig das, was das Kind unruhig macht.«[/quote]
Verhaltensauffällig und ruhig gestellt? In Deutschland werden immer mehr Kinder und Jugendliche mit Neuroleptika behandelt. Das belegen Zahlen einer bisher unveröffentlichten Studie der Uni Köln. Die Wissenschaftler verglichen Daten der AOK Hessen aus den Jahren 2000 und 2006. Ergebnis: Die Zahlen sind alarmierend.
Hochgerechnet auf ganz Deutschland erhielten im Jahr 2000 6.864 Kinder und Jugendliche ein neuartiges Neuroleptikum. 2006 sind es bereits 28.100. Viermal so viele wie vor sechs Jahren.
Und nicht nur das: Es werden immer mehr Kinder und Jugendliche mit Neuroleptika behandelt, obwohl die dazu passenden Diagnosen nicht in gleichem Maße ansteigen. Die Medikamente werden auf Erkrankungen ausgedehnt, für die sie nicht zugelassen sind.
Weiter gehts hier: http://www.swr.de/report/-/id=233454/nid=233454/did=3967926/1ljkxh9/index.html
Auch hier hat Narrowitsch aus Femdisk eine sehr gute Analyse des Report-Berichtes hingelegt:
http://www.femdisk.com/includef.php?path=forum/showthread.php&threadid=3955
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Es ist kein Merkmal von Gesundheit, wohlangepasstes Mitglied einer zutiefst kranken Gesellschaft zu sein