Überschätztes Multitasking

N.N., Monday, 14.04.2008, 00:26 (vor 6461 Tagen) @ Bill

Vor einiger Zeit ging ich in ein Uni-Antiquariat in Berlin. Ich war auf der Suche nach Brandts "Werkzeug des Historikers". An der Kasse saß eine Studentin, die gerade telefonierte. Ich nahm den Brandt aus dem Regal und näherte mich dem Kassentisch. Die junge Studentin unterbrach ihr Telefongespräch jedoch nicht, sondern streckte lediglich ihre freie Hand nach dem Buch aus. Ich zögerte zunächst, ich wollte sie schließlich nicht beim Telefonieren stören, doch dann meinte sie beinahe triumphierend: "Ich bin multitasking-fähig". Damit wollte sie nicht nur zum Ausdruck bringen, daß sie gleichzeitig telefonieren und kassieren könne. Nein, sie wollte mir implizit auch vermitteln, daß ich - da ich männlichen Geschlechts bin - dies NICHT könne. So entgegnete ich (den Tatsachen entsprechend): "Och, das kann ich auch". Sie wurde rot im Gesicht, das Verkaufs"gespräch" schien entgleist und nicht reparierbar. So verließ ich schnell den Laden, zusammen mit meiner Neuanschaffung.

Es gibt in der psychologischen Forschung nicht eine einzige Untersuchung - wirklich nicht eine einzige! -, die geschlechtsspezifische Unterschiede beim multiple tasking zum Gegenstand hätte. Das Thema ist schlicht bislang noch nicht erforscht worden. Das hat auch seinen guten Grund: Psychologen waren bisher ausschließlich damit beschäftigt, Modelle für multitasking zu entwickeln und zu testen. Das Konzept stammt bekanntlich aus der Technischen Informatik und wurde von Kognitiven Psychologen übernommen. Und da man nicht davon ausgehen kann, daß das kognitive System des Menschen nach den gleichen Prinzipien abläuft wie ein Computer, bedarf es eben eigener, spezifisch psychologischer Modellvorstellungen über dessen Funktionsweise. Bevor man freilich geschlechtsspezifische Unterschiede erforscht, muß zunächst einmal klar sein, WAS man überhaupt einer vergleichenden Untersuchung unterzieht. So weit ist die Psychologie aber noch nicht.

Dennoch begegnet man just dieser Ansicht immer wieder in der Öffentlichkeit: Frau kann es (oder zumindest besser als Mann), Mann kann es nicht (oder zumindest schlechter als Frau). Woher diese naive Annahme herrührt, wonach Frauen im multitasking besser abschneiden würden als Männer, ist mir ein Rätsel.