Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Brief an Kerner

Wolfgang, Wednesday, 17.10.2007, 21:49 (vor 6638 Tagen)

http://www.berzengeschnetz.de/blog/?p=87

Kopie mit Bitte um Kenntnisnahme an:
Frau Senta Berger
Frau Margarethe Schreinemakers
Herrn Mario Barth
Herrn Prof. Dr. Wippermann
und einen weiteren Verteiler
per E-Mail oder Fax

Rinteln, den 13. Oktober 2007

Sehr geehrter Herr Kerner,

ich kann mir denken, dass Sie vor allem in dieser Sache mit Zuschriften überhäuft werden. Ich hoffe trotzdem, dass mein Brief überhaupt bis zu Ihnen vorgedrungen ist und dass Sie seinen Inhalt in Erwägung ziehen; ich werde mich auf wenige Punkte beschränken und mich also so kurz wie möglich fassen.

Eine Kopie des Briefes geht u.a. auch an alle anderen PodiumsteilnehmerInnen Ihrer Sendung - mit der von Herzen kommenden Bitte, sich zehn Minuten Zeit zu nehmen und zumindest in Erwägung zu ziehen, was im Folgenden ausgeführt wird.

Vorab noch ein Satz zu mir: Ich bin journalistischer Kollege, politisch liberal und teile Eva Hermans Thesen zum Thema Familie nur sehr bedingt.

Ich sehe die Aufzeichnung Ihrer Sendung zum Thema Eva Herman nun zum vierten Mal in kompletter Länge - und mit jedem Mal nimmt mein Entsetzen zu. Das Problem liegt in der totalen Fehlinterpretation des ursprünglichen Zitates; alle weiteren "Missverständnisse", zu denen es in Ihrer Sendung kam, sind auf diesem Hintergrund vorprogrammiert. Es ist verständlich, was da gelaufen ist; aber es ist falsch gelaufen. Es ist so falsch gelaufen, dass es schon beinahe körperliche Schmerzen bereitet, wenn man es sich in Wiederholung anschaut.

Ich möchte Ihnen im Folgenden eine unmissverständliche "Schriftdeutsch"-Fassung des "Skandal-Zitates" anbieten (ohne allzu viel zu verändern); selbstverständlich ist das meine Interpretation - ich halte sie aber für die einzig vernünftige. Desweiteren möchte ich an zwei Beispielen aus Ihrer Sendung weitere "Missverständnisse" klären.

1. Das Skandal-Zitat in unmissverständlichem Schriftdeutsch:

"Wir müssen den Familien Entlastung und nicht Belastung zumuten und müssen auch Gerechtigkeit schaffen zwischen kinderlosen und kinderreichen Familien. Und wir müssen vor allem das Bild der Mutter in Deutschland wieder wertschätzen lernen. Diese Wertschätzung der Mutter ist ja leider zusammen mit der nationalsozialistischen Ideologie von der darauf folgenden 68er Bewegung abgeschafft worden. Von den 68ern wurde damals praktisch alles, was wir an Werten hatten, abgeschafft. Die NS-Zeit war eine grausame Zeit; das war ein völlig durchgeknallter, hochgefährlicher Politiker, der das deutsche Volk ins Verderben geführt hat, das wissen wir alle. Aber es sind eben im Zuge der wichtigen Auseinandersetzung mit dieser Zeit damals von den 68ern auch an sich gute Werte - Werte, die sich auf Kinder, auf Mütter, auf Familien beziehen und die es in Deutschland auch vor Hitler gegeben hat - abgeschafft worden. Es durfte nichts mehr stehen bleiben ..."
(Man könnte noch ergänzen: ", ... was in Ideologieverdacht geraten war; und das waren fälschlicherweise alle Werte schon als solche.")

Eva Herman wollte sagen, dass durch die 68er-Bewegung als eine Art geistigen Aufräumprozesses alles abgeschafft wurde, was im Nationalsozialismus eine tragende Rolle gespielt hat (ob nun dort entstanden oder von früher übernommen und von Nazis instrumentalisiert) - darunter aber eben nicht nur tatsächlich Bedenkliches, sondern einfach alles in Ideologieverdacht Geratenes - also auch dasjenige, was als solches gut war. Und "als solches" heißt nicht "in seiner nationalsozialistischen Variante", sondern eben "als solches".
Beispiel: Wertschätzung der Mutter. Die gab's vorher schon, die gab's weiterhin in der NS-Zeit - wo diese Wertschätzung zu hinlänglich bekannten Kanonenfutterzwecken instrumentalisiert wurde. Und die 68er haben sich nun nicht damit begnügt, die Instrumentalisierung dieses Wertes durch die Nazi-Ideologie zu geißeln, sondern sie haben - das jedenfalls ist Hermans Ansicht - gleich den ganzen Wert in abwertende Frage gestellt und negiert.

Die beiden "damals" des Ursprungszitates (Hervorhebung von mir) beziehen sich nicht auf das Dritte Reich, sondern auf die 68er-Zeit:

"Mit den 68er wurde damals praktisch alles das alles, was wir an Werten hatten, es war 'ne grausame Zeit, das war ein völlig durchgeknallter, hochgefährlicher Politiker, der das deutsche Volk ins Verderben geführt hat, das wissen wir alle, aber es ist damals eben auch das, was gut war, und das sind Werte, das sind Kinder, das sind Mütter, das sind Familien, das ist Zusammenhalt - das wurde abgeschafft. Es durfte nichts mehr stehen bleiben ..."

Denn "mit den 68ern" kann ganz unmöglich zwischen 1933 und 1945 etwas abgeschafft worden sein.
Herman will auch nicht sagen, dass Nationalsozialismus UND 68er die Werte abgeschafft haben. Sie will sagen, dass die 68er die Familienwerte fälschlicherweise abgeschafft haben, weil sie als Werte (und nicht nur als die Instrumentalisierung von Werten) in NS-Ideologieverdacht geraten waren.

2. Werte, Instrumentalisierung von Werten und Bedauern der Instrumentalisierung im Dritten Reich / Auszug aus Ihrer Sendung:

Frau Herman hat zu dieser Frage in Ihrer Sendung drei Mal unmissverständlich Stellung genommen; es ist nicht ein einziges Mal wirklich verstanden worden - und das lag nicht an ihr! Hier der entsprechende Transkript-Auszug mit meiner Kommentierung in Klammern:

### Werte und Instrumentalisierung/Bedauern der Instrumentalisierung, Teil 1:

Herman: Also vielen Dank erst Mal für den Geschichtsunterricht, aber das sind keine Neuigkeiten, die Sie gerade von sich gegeben haben. Und wenn Sie hierher kommen und Sie mit mir darüber sprechen wollen, dann setze ich voraus, dass Sie vielleicht auch meine Bücher gelesen haben und dann wissen Sie auch, dass beispielsweise in dem Buch "Das Eva-Prinzip" ich mich mit einem langem Unterkapitel genau um diese Zeit kümmere und damit intensiv auseinandersetze und über die verheerenden Zustände in dieser Zeit berichte und über die ausbeuterischen Zustände der Mutter und ich distanziere mich hier noch einmal sehr energisch. Ich möchte einmal dazu sagen, abgesehen davon, dass ich das völlig an den Haaren herbeigezogen und unsachlich finde, weil mir hier wieder etwas unterstellt wird, wovon ich mich die ganze Zeit distanziert habe ...
(Es geht nicht deutlicher! Es geht höchstens kürzer.)

### Werte und Instrumentalisierung/Bedauern der Instrumentalisierung, Teil 2:

Kerner: Noch einmal zurück zu den Werten, die angesprochen worden sind. Du selbst sagst, die Nazis haben diese Werte pervertiert.
(Sie, Herr Kerner, haben doch zumindest diesen Punkt also bereits verstanden!)

Herman: Ja.
(JAAAA!)

Kerner: In jeder Form nichts anderes hat der Historiker auch gesagt.
(JAAA! GENAU! So weit, so gut. Und was jetzt folgt, zeigt, dass Eva Herman eben gar nichts hilft)

Warum sagst du nicht, dass es ein Fehler war, überhaupt diesen NS-Vergleich in einer welchen, in welcher Form auch immer, in einer solchen Pressekonferenz, in der es darum geht ein Buch vorzustellen, zu erwähnen.
(Sie hat keinen NS-Vergleich angestellt! Vgl. Schriftdeutsch-Zitat!)

Herman: Ich habe es gerade gesagt, wir haben über die Ursachen gesprochen, die Frage ist gestellt worden, warum haben wir Probleme mit den Werten, warum zerfällt unsere Gesellschaft? Warum haben wir viele Scheidungen? Warum haben wir kaum noch Familien, die zusammen finden und bestehen bleiben können?

Kerner: Und warum muss man Vergleiche, mit den NS-Zeiten Vergleiche machen?
(Sie will Ihnen gerade erklären, warum sie zwar keinen Vergleich angestellt, die NS-Zeit aber trotzdem erwähnt hat!)

Herman: Gerade nochmal, wenn man die Ursachen sucht, findet man sie doch hier. Hier sind die Dinge, genau diese Dinge missbraucht worden, und danach dadurch für unbrauchbar erklärt worden.
(Das ist kurz, prägnant, unzweifelhaft, unmissverständlich und es ist exakt das, was sie schon die ganze Zeit meint: Die Werte, um die es ihr zu tun ist, wurden von den Nazis missbraucht und aus diesem Grund "damals" von den 68ern abgeschafft, weil sie unter Ideologieverdacht geraten waren!
Daran ist m.E. überhaupt nichts auszusetzen. Sie geht auf Ihre Frage ein und erklärt Ihnen, aus welchem Grund sie bei ihrer Darlegung die NS-Zeit erwähnt hat. Und spätestens hier, an dieser Stelle, fehlt mir jetzt einer, der sagt: Ach so! Ach so, ach so, ach so! ­ Stattdessen kommt Herr Prof. Wippermann, der offenbar gar nicht zugehört hat, und klatscht den ganzen gerade aufgeräumten Unsinn wieder auf den Tisch, woraufhin sich das bereits schwer strapazierte Gogomobil erneut in Bewegung setzt. Das ist absolute Ignoranz; und gegen die ist kein Kraut gewachsen.)

### Werte und Instrumentalisierung/Bedauern der Instrumentalisierung, Teil 3:

Wippermann: Sie haben es gesagt und auch in diesen Sachen.
(Nein! Sie hat das, was Prof. Wippermann behauptet, eben nie und nirgends gesagt!)

Sie haben die Werte gelobt. Werte wie Familie und Kinder und das Muttersein,
(Soweit korrekt)

die auch im 3. Reich gefördert wurden.
(NEIN! Das ist totale Fehlinterpretation Wippermanns!)

Das ist ihr Zitat und das ist falsch. Das muss man einfach sagen. Das ist falsch. Ich wollte Ihnen eine Brücke bauen, zu sagen: "Ich wollte ja nur das konservative Ideal verteidigen." Und sie wollten sich distanzieren von diesem rassistischen Frauenideal und von der Frauenpolitik.

Herman: Das tu ich doch die ganze Zeit. Ich meine, ich habe... [wird unterbrochen]
(Tja. Und sie tut es tatsächlich die ganze Zeit; sie hat nie etwas anderes getan).

3. Die Gleichschaltung und das Autobahn-Argument - Reflex statt Kontext / Auszug aus Ihrer Sendung:

Eva Herman benutzt das "Autobahn-Argument" ganz zweifelsfrei nicht in der bekannten Relativierungs-Variante "damals war nicht alles schlecht"! Sie verwendet es, um die - tatsächliche! - Absurdität von Prof. Wippermanns Unterstellung des Gebrauchs von Nazi-Begriffen darzulegen. Ein bisschen Kontext-Erkennen darf - nein: muss! - sein. Ich erwarte das nicht nur von einem Historiker, sondern auch von Ihnen und den anderen Gästen auf dem Podium.

Sie und Professor Wippermann hatten sich an Hermans Verwendung des Begriffes "Gleichschaltung" gestört. Professor Wippermann führte aus, inwiefern es sich dabei um einen Nazi-Begriff handelt. Leider hat er das Wesentliche nicht gesagt. Als Nazi-Begriff hat der Begriff "Gleichschaltung" eine positive Konnotation. Bei der Nazi-Verwendung des Begriffes handelte sich um eine Forderung, die sich sogar in zwei Gesetzen niederschlug (vorläufiges und zweites "Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich"). Heute wird der Begriff deskriptiv und mit einer negativen Konnotation verwendet. Ich habe selbst schon hin und wieder über die "Gleichschaltung der Medien" geschrieben, hingegen noch nie zur Gleichschaltung der Medien aufgerufen! Und selbstverständlich hat Frau Herman vollkommen Recht: Der Begriff wird ständig verwendet - auch von ganz demokratischen Journalisten sämtlicher seriöser deutscher Medien. ("Heutzutage ist der Begriff in die Alltagssprache diffundiert und wird vielfach als Bezeichnung für die uniforme Berichterstattung der Medien sowie die Konformität und Angepasstheit von Individuen im vorauseilenden Gehorsam verwendet" ist dazu vollkommen korrekterweise bei Wikipedia zu lesen).

Gegen die also falsche und überzogene Beschuldigung durch Herrn Prof. Wippermann wendet sich nun Eva Herman mit einem sicher ungeschickten, aber - und das ist das Wesentliche - in diesem Kontext überhaupt nicht anstößigen Beispiel. Sie sagt nämlich, dass der Begriff "Gleichschaltung" natürlich in der NS-Zeit benutzt worden sei,
(Zitat Herman:) "Aber es sind auch Autobahnen damals gebaut worden und wir fahren heute drauf."

Die nun folgende Reaktion von Professor Wippermann, von Ihnen, vom Podium und im Zuschauerraum ist - entschuldigen Sie, wenn ich's so deutlich sage - reine Hysterie. Sie unterstellen alle plötzlich einen Kontext, in dem Herman das Autobahn-Argument bringt, der überhaupt nicht vorliegt. Sie verstehen es als die Verteidigung von Nazi-Werten und eine Relativierung in Richtung "damals war nicht alles schlecht". Aber wie kommen Sie darauf? Darum gings doch gar nicht.

Eva Herman meint - und zwar zu Recht! -, dass sie den Begriff "Gleichschaltung" nicht unzulässigerweise verwendet hat, denn ansonsten wäre es eben heute auch nicht zulässig, Autobahnen zu benutzen. Ist es aber. Beides. Das Wesentliche an den "Straßen des Führers" als NS-Besonderheit ist ja nicht, dass es sich um Autobahnen handelt, sondern, dass sie den deutschen Expansionsbestrebungen und Kriegszwecken dienen sollten und dass bei ihrem Bau Zwangsarbeiter eingesetzt worden sind. Das Wesentliche an der Nazi-Variante des Begriffs "Gleichschaltung" ist nicht der Begriff, sondern seine spezielle Verwendung. Wenn es der Begriff selbst und seine reine Benutzung wäre, könnten wir überhaupt nicht mehr "zulässig" sprechen. Das ist es, was Herman meinte. Und sie hat - Recht.

Es tut mir leid, dass der Brief so lang geworden ist. Aber anders als bis zu einem gewissen Grad "akribisch" kann man in dem Wust von Missverständnissen und daraus - verständlicher-, aber fälschlicherweise - resultierenden Vorurteilen wohl nicht darlegen, dass Eva Herman hier tatsächlich zu Unrecht etwas unterstellt wird, das sie weder gesagt, noch gemeint hat - und zwar nicht nur auf der berühmten Pressekonferenz, sondern dann auch noch weiter in Ihrer Sendung.

Sehr geehrter Herr Kerner,
ich möchte mit einer Bitte unter Kollegen schließen und an dieser Stelle auch die anderen PodiumsteilnehmerInnen direkt ansprechen:

Sehr geehrte Frau Berger,
sehr geehrte Frau Schreinemakers,
sehr geehrter Herr Barth,
sehr geehrter Herr Professor Wippermann,

sollten Sie nach Prüfung meiner dargelegten Thesen zu dem Ergebnis kommen, dass Eva Herman tatsächlich Unrecht getan worden ist und wird: bitte haben Sie den Mut zur Erkenntnis des eigenen Irrtums und ein entsprechendes Verantwortungsgefühl und stellen Sie die Sache klar.

Es geht für meinen Geschmack einfach zu weit, was hier auf dem schwankenden Grund der Missverständlichkeit eines Zitates - das mit etwas gutem Willen und kontextuellem Verständnis gelesen jeden falschen Verdacht ausschließt - im öffentlichen Raum mit einer Kollegin veranstaltet wird, die sich vielleicht nicht immer geschickt, aber mit vollem Recht gegen falsche Unterstellungen verteidigt.

Mit sehr herzlichen Grüßen,

Ihr Felix Hau

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