Die Krankheitserfinder - Wie wir zu Patienten gemacht werden
Jörg Blech
Die Krankheitserfinder - Wie wir zu Patienten gemacht werden
Verlag: S. Fischer Verlag Erscheinungsjahr: 2003 ISBN: 3-10-004410-X
Auszug
==Kapitel: Psychopille zum Pausenbrot===
Die kleinen weißen Tabletten verändern die Kinder.
Nina beispielsweise, eine acht Jahre alte Grundschülerin aus Mittelehrenbach in
der Fränkischen Schweiz, zappelte früher ständig herum. Sie brauchte drei
Stunden für die Hausaufgaben und sagte ihrer Mutter: >Ich habe so viel im Kopf.«
Seit anderthalb Jahren jedoch ist das anders. Nina schluckt seither jeden Tag
Konzentrationspillen«, wie sie in der Familie genannt werden. >Sie kommt in
der Schule besser mit und ist gewissenhafter bei der Sache«, erzählt Ninas
Mutter, während die Tochter auf der Blockflöte >Hänschenklein« spielt. Lange
habe sie gezögert, ihrer Tochter das Medikament zu geben. Doch ohne das Ritalin
gehe es nicht: >Nina möchte ja normal funktionieren.« Auch Felix, ein neun
Jahre alter Blondschopf aus dem nahen Forchheim, hat sich ? aus Sicht seiner
Eltern ? zum Guten verändert: Früher war der Sohn >ständig in Bewegung, unruhig
und konnte sich nicht konzentrieren«, sagt die Mutter. >Mit dem Kind stimmte
irgendetwas nicht.«
Das findet sie jetzt nicht mehr. Seit Felix jeden Tag Ritalin schluckt, sei er
zugänglicher: >Er kann sich auch mal hinsetzen und ein Buch lesen.« In der
Grundschule laufe es viel besser; im Diktat hat Felix heute immerhin eine >Drei
plus« geschafft. Die Mutter strahlt: >Das Ritalin ist schon ein Wundermittel.«1
Wie Nina und Felix bekommen jeden Tag mehr als 50.000 Kinder in Deutschland
Psychostimulanzien, die sie ruhig und aufmerksam machen sollen. Die Pillen
sollen ein Leiden bekämpfen, das sich wie eine Seuche auszubreiten scheint: das
Aufmerksamkeits-Defizit- Syndrom« (ADS), das häufig mit >Hyperaktivität«
einhergehen soll (ADHS). Mit der Zahl der Diagnosen steigt auch die Zahl der
kleinen Konsumenten. Ritalin und Medikinet, so die Namen zweier konkurrierender
ADHS-Medikamente, finden in Deutschland einen Absatz wie nie zuvor.
Der Verbrauch des Wirkstoffs Methylphenidat, der unter das
Betäubungsmittelgesetz fällt, hat sich in der jüngsten Vergangenheit sprunghaft
erhöht, meldet die zuständige Bundesopiumsteile in Bonn. Das Aufputschmittel
wirkt direkt im Gehirn und erhöht die Aufmerksamkeit. Wurden 1993 gerade einmal
34 Kilogramm Methylphenidat verbraucht, waren es 2001 bereits 693 Kilogramm ?
in nur einem Jahrzehnt eine Steigerung um mehr als das 20fache. Viel größer
noch als die Zahl der Verschreibungen ist die Zahl der Eltern, die fürchten,
auch ihr Spross leide unter der unheilvollen Krankheit. Mehr als 60
deutschsprachige Bücher zum Thema ADHS stillen den Informationshunger. Auf
Veranstaltungen lauschen Hunderte Zuschauer, wenn Psychologen, Ärzte und
Betroffene über die wichtigsten Fragen streiten: Wie erkenne ich, ob mein Kind
betroffen ist? Wer hat Schuld, die Erziehung der Eltern oder die Gene? Kann
Ritalin helfen? Und ist ADHS überhaupt eine Krankheit ? oder nur eine
Modeerscheinung?
Wie immer, wenn es um Erziehung geht und um Kindeswohl, ist die Debatte
leidenschaftlich und durchsetzt mit Beschuldigungen: Wer seinem Kind die
Psychopille zum Pausenbrot gibt, der gilt schnell als Rabeneltern; wer sich
gegen Ritalin ausspricht, dem wird schnell unterstellt, ein Freund der
Scientologen zu sein. Die Sekte verdammt jede Psychodroge als Teufelszeug ? um
gleichzeitig ihre Gehirnwäsche als Schlüssel zu einem schönen Leben zu
propagieren. Horrorgeschichten über den Missbrauch von Methylphenidat heizen
die Stimmung weiter auf: In den USA konsumieren Jugendliche und junge
Erwachsene die Kinderpille sogar als Lifestyle-Droge, die den Hunger zügeln und
die Müdigkeit vertreiben soll. Die Tabletten werden geschluckt oder zu Pulver
zerstampft und dann geschnupft. >Einige Süchtige lösen die Tabletten in Wasser
auf und spritzen sich die Mixtur«, sagt das amerikanische Justizministerium.
Die Injektionen könnten zu >ernsten Schäden in den Lungen und der Netzhaut des
Auges« führen und >schwer wiegende seelische Abhängigkeit verursachen«, warnt
die Behörde.
Wie in den Vereinigten Staaten, wo schätzungsweise fünf Millionen Schüler Tag
für Tag Methylphenidat einnehmen, wird inzwischen auch in Deutschland keine
seelische Störung bei Kindern und Jugendlichen häufiger diagnostiziert als ADHS.
Schätzungen zufolge sollen zwei bis zehn Prozent aller Kinder betroffen sein ?
demnach säßen in jeder Schulklasse rein rechnerisch bis zu zwei Zappelphilippe,
die medizinischer Hilfe bedürfen. Die ADHS-Hysterie kennt kein Halten mehr.
Nicht nur Ärzte suchen nach unentdeckten Fällen, sondern auch Lehrer screenen
ihre Klassen. In Hamburger Schulen etwa kursieren Flugblätter (>Hilfe zur
Selbsthilfe«), um den Blick des Kollegiums für betroffene Kinder zu schärfen.
Auch bei Felix in Forchheim drängte die Klassenlehrerin zur ärztlichen
Untersuchung. Wenig später bekam der Junge dann zum ersten Mal das >Giftle«,
wie einige Eltern in der fränkischen Stadt das Methylphenidat nennen.
Andernorts erinnern Mütter ihre Kinder per Anruf auf dem Handy oder per SMS-
Nachricht daran, die Tablette in der zweiten Pause einzunehmen. Manchmal geben
sogar die Lehrer den Kindern die Pillen ? juristisch heikel, immerhin handelt
es sich um ein Betäubungsmittel. Ältere Schüler tragen Pillendosen, die fiepen,
sobald die nächste Tablette fällig ist. Auch eine steigende Anzahl von
Erwachsenen gilt neuerdings als befallen von pathologischer Zerstreutheit und
krankhafter Unrast. >Hyperaktivität ist keine Kinderkrankheit«, behauptet die
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Im
Bundesgebiet litten >bis zu zwei Millionen Erwachsene« unter entsprechenden
Symptomen.
Konzentrationsstörungen und ungerichtete Impulsivität machen es ihnen schwer,
den Alltag zu bewältigen.« Abhilfe sollen Psychopillen schaffen: Es habe >sich
gezeigt, dass Erwachsene, wie auch Kinder, gut auf stimulierende Medikamente
ansprechen«.2 Die Industrie hat die neue Zielgruppe der Alten bereits am Wickel.
ADHS, eine treue Begleiterin ein ganzes Leben lang«, frohlockt der Ritalin-
Hersteller, der Weltkonzern Novartis. In Basel ließ er im Mai 2002 geladene
Ärzte schulen, wie das Leiden >mit Stimulanzien und/oder Antidepressiva« zu
behandeln sei. Aber vor allem kümmert sich Novartis um die Kinder. So hat der
Konzern für die Kleinen kürzlich ein Bilderbuch auf den Markt gebracht. Das
Pharmamärchen erzählt die Geschichte des Kraken >Hippihopp«, der >fürchterlich
ausgeschimpft« wird, weil er >überall und nirgends ist« und ihm viele
Missgeschicke passieren. Doch zum Glück erkennt Doktorin Schildkröte, was
Hippihopp hat: >ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom!« Mehr noch, sie weiß auch,
was ihm fehlt: >eine kleine weiße Tablette.
Hinter dem grassierenden Medikamenten-Konsum steckt viel mehr als bloßes
Zappeln. Pharmafirmen und manche Nervenärzte stricken seit Jahrzehnten daran,
fahrige und schlecht konzentrierte Zeitgenossen als kranke und
behandlungsbedürftige Menschen darzustellen. Doch nie zuvor wurde der Mythos
vom hyperaktiven Kind so leidenschaftlich gepflegt wie heute. Mindestens zwölf
verschiedene Substanzen, die gegen das Zappelphilipp- Syndrom verabreicht
werden sollen, befinden sich gegenwärtig in der klinischen Entwicklung.3 Was
jetzt Milliardenumsätze verspricht, hat harmlos angefangen:
Der Frankfurter Nervenarzt Heinrich Hoffmann war es, der 1845 ein nervöses Kind
im Kinderbuch >Struwwelpeter« beschrieb. Hoffmanns >Zappelphilipp« kann einfach
nicht still sitzen: >Er gaukelt / Und schaukelt / Er trappelt / Und zappelt /
Auf dem Stuhle hin und her« ? bis Philipp mit dem Tischtuch Teller, Besteck und
Terrine zu Boden reißt. Ein halbes Jahrhundert später, anno 1902, druckte dann
die britische Ärztezeitschrift Lancet den Aufsatz eines Arztes, der Kinder mit
behinderter Willenskraft« und >merklichem Unvermögen, sich zu konzentrieren«
beobachtet haben wollte.4
Doch die eigentliche Karriere des ADHS beginnt erst Jahrzehnte später. Sie geht
zurück auf einen Zufallsfund im Labor: Leandro Panizzon, ein bei der Firma Ciba*
tätiger Chemiker, synthetisierte die Substanz Methylphenidat im Jahre 1944 und
probierte sie im Selbstversuch aus, der allerdings kein nennenswertes Ergebnis
brachte. Seine Frau Marguerite, genannt Rita, naschte ebenfalls von der
Substanz ? und registrierte eine durchaus belebende Wirkung. Fortan nahm Rita
den Stoff gelegentlich vor dem Tennisspielen ein, weshalb Chemiker Panizzon die
Substanz nach ihr benannte: Ritalin.
Zunächst wurde das Mittelchen nur Erwachsenen gegeben, um Zustände wie gesteigerte Ermüdbarkeit,
depressive Verstimmungen und Altersverwirrung zu
behandeln ? das Krankheitsbild, das Ritalin berühmt und
berüchtigt machen sollte, war damals noch nicht erfunden.
Erst in den 60er Jahren wurden Befunde bekannt, denen
zufolge Methylphenidat und eine verwandte Substanz
namens Dexedrine auf Schüler mit Lernschwierigkeiten
einen bemerkenswerten Effekt ausübten.
Wegweisend waren Versuche des Psychologen Keith Conners und des Psychiaters
Leon Eisenberg mit Dexedrine an zwei Schulen in Baltimore im US- Bundesstaat
Maryland, die von schwarzen Kindern der Unterschicht besucht wurden. Als die
Substanz an die Schüler ausgegeben wurde, nahm das sonst so nervige Gedränge
und Getobe in den Erziehungsanstalten ab. Die behandelten Kinder besserten
Verhalten in der Klasse, Einstellung zur Autorität und Teilnahme an der
Gruppe«, berichteten ihre Lehrer ? sie hatten einen Weg gefunden, die Zustände
an Ghetto-Schulen erträglicher zu gestalten.5 Dieses und ähnliche Ergebnisse
veranlassten das National Institute of Mental Health und einige Pharmafirmen,
weitere Studien mit den Kinderpillen durchzuführen. Bald berichteten Zeitungen
über die vermeintlichen Wundermittel, und die Zahl der Verschreibungen stieg
rasant. Allerdings blieb vollkommen unklar, wogegen man die Pillen eigentlich
verschrieb.
Das Dilemma der fehlenden Indikation wurde von amerikanischen Ärzten Ende der
60er Jahre mit einem Trick gelöst, dessen Folgen bis heute nachwirken: Die
Medikamente selbst könne man doch benutzen, so die Wissenschaftler, um das
Kranksein der Kinder zu diagnostizieren: Wer sein Verhalten ändert, nachdem er
die Mittel geschluckt hat, der ist krank. Umgekehrt sind jene Kinder gesund,
die nicht auf die Substanz ansprechen. Dieser Winkelzug war es, der der heute
gängigen massenhaften Abgabe von Psychodrogen an Kinder den Weg ebnete. Bis
dahin wäre es undenkbar gewesen, Kindern Amphetamine und ähnliche Substanzen zu
verabreichen, nur weil sie sich in der Schule und zu Hause unbotmäßig
verhielten. Nun aber war die Situation eine andere: Es galt ein medizinisches
Syndrom zu kurieren.
Die Krankheit wurde erst durch die Existenz von Psychopillen ermöglicht; die
Diagnose wurde festgelegt durch die Therapie. Damals, im Jahre 1970, erhielten
200.000 bis 300.000 US-Kinder Medikamente, die das Verhalten ändern. Seither
ist ihre Zahl ? in den USA und in Deutschland ? kontinuierlich gestiegen.6
Funktionelle Verhaltensstörung« nannten Pharmafirmen das Phänomen, bis die
amerikanische Arzneimittelzulassungsbehörde FDA diese unscharfe Bezeichnung
untersagte. Prompt wurde das Leiden umbenannt in >minimale zerebrale
Dysfunktion«, später geisterte der Begriff >hyperkinetische Störung« durch
Kindergärten und Grundschulen. Schließlich erfand der amerikanische
Psychiatrieverband anno 1987 das bis heute gängige Kürzel ADHS.
Auf dem explodierenden Markt, auf dem mittlerweile Milliardensummen umgesetzt
werden, wurde der Produktname Ritalin zum Synonym für Kinderpsychopillen. Die
Tabletten waren zwar teurer als Mittel der Konkurrenz. Doch mit einer
aggressiven Kampagne, die nicht nur das Medikament, sondern auch die Krankheit
bewarb, sicherte sich der Hersteller von Anfang an den Spitzenplatz. Anzeigen
zeigten Klassenzimmer, in denen glückliche Schüler in Reih und Glied sitzen.
Der Lehrer steht neben einem Jungen, dessen Gesicht als einziges auf dem Foto
unscharf abgebildet ist. >Er ist ein Opfer der minimalen zerebralen Dysfunktion,
einer diagnostizierbaren Einheit, die im allgemeinen gut auf Behandlung
anspricht«, heißt es im Begleittext. >Und Ritalin kann dabei eine wichtige
Rolle spielen.« Heutzutage, 30 Jahre später, spielt sich Ähnliches ab.
Schauplatz ist mittlerweile auch Deutschland, und um die Hauptrolle buhlen
unterschiedlichste Firmen.
Sie alle geben sich als Aufklärer der Volksgesundheit ? und versuchen ganz
gezielt, das Phänomen ADHS im Bewusstsein der Ärzte und der Öffentlichkeit zu
verankern. Das Iserlohner Unternehmen Medice (>Medikinet«) finanzierte eine
Fachtagung zum Thema auf dem Deutschen Kongress der Kinder- und
Jugendpsychiater im März 2002 in Berlin. In ungewohnter Eintracht unterstützten
die Konkurrenten Medice und Novartis Pharma eine Beilage der Zeitschrift Kinder-
und Jugendarzt, die ausschließlich dem Thema ADHS gewidmet ist und die Gabe von
Methylphenidat propagiert.7
Die Pharmafirma Lilly wiederum ist alleiniger Sponsor des >Hamburger
Arbeitskreises ADS/ADHS«. Der mit Medikamentenbefürwortern bestückte Zirkel
strebt eine >bundesweite Ausweitung« an und hat einen Leitfaden veröffentlicht,
der sich an Ärzte, Eltern und Lehrer wendet. Die Pädagogen liegen dem von der
Industrie finanzierten Arbeitskreis am Herzen ? er möchte sie fortbilden und
versucht deshalb, die Schulbehörde in
Hamburg in seine Kampagne einzubinden. Lilly unterstützte ein Symposium über
unruhige Kinder und Jugendliche«, bei dem sogar der Landrat als Schirmherr in
Erscheinung trat.8 Lillys finanzielles Engagement dürfte einen wenig
uneigennützigen Hintergrund haben: In Kürze will der Konzern die Zulassung für
eine eigene Kinderpille beantragen, um den Marktführer Ritalin zu attackieren.
Atomoxetin«, so der Name der Lilly-Substanz, soll >das soziale und familiäre
Funktionieren« der Kinder verbessern (so das Fachblatt Ärztliche Praxis) und
dabei weitaus weniger Nebenwirkungen als Ritalin haben.
In den USA ist das neuartige Produkt bereits auf dem Markt. Schließlich wartet
auch der Pharmakonzern Janssen-Cilag mit einem neuen Produkt auf: Concerta, in
Deutschland vor kurzem zugelassen, wirkt zwölf Stunden lang im Gehirn der
Kinder ? den ganzen Tag. Während die Pharmaindustrie mit ihren Kampagnen die
Märkte von heute und morgen aufteilt, fragen sich bange Eltern, was die
flächendeckende Abgabe von Psychopillen an Grundschüler eigentlich ist: Segen
oder Skandal? Der im fränkischen Forchheim praktizierende Kinderarzt Klaus
Skrodzki ist ein vehementer Befürworter. >Wenn die Entwicklung bei einem Kind
nach unten geht, müssen wir mit Medikamenten eingreifen«, sagt er. Der agile
Mann arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten als niedergelassener und allseits
beliebter Kinderarzt. Er hat Nina, Felix und vielen anderen Kindern in und rund
um Forchheim Methylphenidat verschrieben.
Dass Skrodzki zum deutschen Ritalin-Pionier wurde, hat mit seinem eigenen Sohn
zu tun, dem vor 27 Jahren geborenen Florian. >Er fiel bereits im Kindergarten
auf. Malen klappte überhaupt nicht, und vieles ging ihm kaputt«, erzählt der
Vater. In der Grundschule kam der Arztsohn nicht mit. Nach sechs Wochen nahm
der Vater ihn aus der Klasse ? und ließ ihm von einem Kollegen Methylphenidat
verschreiben. 20 Jahre ist das her. Die Schulleistungen blieben dennoch
bescheiden: Florian verließ die Schule ohne Abschluss, schaffte später aber
eine Ausbildung zum Fachwerker im Gartenbau und eine weitere zum Pferdewirt.
Heute mistet er Ställe auf einem Gestüt aus und gibt Kindern Reitunterricht.
Seine Mutter sagt: >Er kann besser mit Pferden umgehen als mit Menschen.«
Seither schwört Vater Skrodzki darauf, allzu zappelige und unaufmerksame Kinder
mit Medikamenten zu behandeln. >Mit dem Methylphenidat gibt man dem Kind eine
Chance, seine Fähigkeiten nach außen zu zeigen«, sagt er. Auf die Frage, was an
Kindern mit ADHS so typisch, so einzigartig sei, antwortet der Arzt: >Die
können mich hier in der Praxis zur Weißglut bringen.« Dann fügt er hinzu: >Sie
sind aber oftmals viel interessanter als die anderen Kinder.« Auch Patienten
unter sechs Jahren verschreibt Skrodzki die Substanz, wenn er es für richtig
hält ? obwohl selbst die Hersteller davor warnen. Sein jüngster Methylphenidat-
Patient war drei Jahre alt.
Ich habe befürchtet, dass die Mutter das Kind erschlägt«, rechtfertigt der
Doktor die Verschreibung. Der Kinderarzt Dietrich Schultz hingegen, der im
bayerischen Wolfratshausen seit zwei Jahrzehnten eine Praxis führt, sieht die
sich ausweitende Verschreibung des Methylphenidats mit wachsendem Unbehagen.
Zwar hat auch er die Kinderpille gelegentlich verschrieben, weil sie >in
bestimmten Fällen wirkt«. Jedoch warnt der Arzt, der zugleich Psychoanalytiker
ist, dass die Tabletten >viel zu häufig« verschrieben werden. >ADHS ist
insgesamt ein Konstrukt. Damit wird ein Verhalten von Kindern erklärt, das
unsere Gesellschaft hervorgebracht hat«, urteilt Schultz.
Man stülpt da einer ganzen Kindergeneration etwas über.« Und allzu oft werde
die Pille den Kleinen ohne jede weitere Therapie verabreicht, fürchtet Schultz.
Das Medikament allein zu geben ist ein ärztlicher Kunstfehler.« Genau das, so
glauben die kritischen Kinderärzte, habe für den kleinen Konsumenten fatale
Folgen. Es könne für ihn bedeuten: Du hast einen Defekt in der Intelligenz und
im Gefühlsleben.
Der Streit der Kinderärzte ist typisch für den heftigen Glaubenskrieg, der
Psychologen, Therapeuten, Lehrer, Mütter, Väter, Großeltern und Politiker
entzweit: Verbirgt sich hinter der massenhaften Gabe von Medikamenten an Kinder
tatsächlich ein realer Anstieg pathologischer Verhaltensauffälligkeiten? Oder
sollen mit den Psychopillen nur jene Übelstände unterdrückt werden, die in
deutschen Familien, Kindergärten und Schulen herrschen?
Eines ist gewiss: dass die Krankheitserfinder nicht müde werden, möglichst
viele Kinder als psychisch auffällig, gestört oder krank darzustellen. >Ängste:
Jedes siebte Kind behandlungsbedürftig« ? mit dieser Schlagzeile schockt die
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde. Die
Pressemitteilung, die von vier Pharmafirmen gesponsert ist, gibt erst gar keine
Quelle für die starke Behauptung an.9 Manchmal reichen anscheinend schon die
Lebensumstände aus, um Kinder zu Patienten zu erklären. Die steigende Zahl der
Scheidungen führt nach Ansicht des Psychiaters Richard Gardner zur Ausbreitung
des >Parental Alienation Syndroms«.
Dass Kinder unter der Trennung der Eltern
leiden können, das ist altbekannt ? doch ist dieses Leiden wirklich auch eine
eigenständige Krankheit? Die Grenzen zwischen ernster Krankheitserfinderei und
Satire verschwimmen. 1985 schrieb Jordan Smoller von der Pennsylvania
University in einem viel beachteten Aufsatz, die Kindheit sei >ein Syndrom, das
erst seit kurzem die ernsthafte Beachtung durch die Kliniker erfährt«.
Unreife« und >Zwergenwuchs« zählt Smoller zu den wichtigsten Symptomen. Zwar
seien die >kurzen, lärmenden Kreaturen« uns vertraut. >Die Behandlung von
Kindern war jedoch unbekannt bis in unser Jahrhundert, als so genannte
?Kinderpsychologen? und ?Kinderpsychiater? aufkamen.« Besonders schwierig, so
Smoller weiter, sei die Behandlung von >Kleinkindern«. Die seien >bekannt dafür,
dass sie sich infantil verhalten und dass sie einen bestürzenden Mangel an
Einsicht zeigen«.10
===Kinder auf Drogen ===
Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marion Caspers-Merk (SPD),
beschleicht beim Thema Methylphenidat ein mulmiges Gefühl. >Jedes Jahr
verdoppelt sich der Verbrauch«, wundert sie sich ? und lässt den rapiden
Anstieg deshalb untersuchen. Seltsamerweise wurde die Kinderpille im Jahr 2000
in den Bundesländern unterschiedlich oft verschrieben: in den Stadtstaaten
Bremen und Hamburg weitaus häufiger als in Nordrhein-Westfalen oder Sachsen-
Anhalt. Vielfach verschreiben Ärzte, die dafür gar nicht ausgebildet sind,
Kindern das Psychopharmakon. Caspers- Merk ließ sämtliche Methylphenidat-
Rezepte in 200 so genannten Referenzapotheken auswerten: Jedes dritte stammte
nicht von einem Kinderarzt oder -psychiater, sondern von Laborärzten,
Radiologen, Hals-Nasen- Ohrenärzten, Gynäkologen ? in einem Fall sogar von
einem Zahnarzt. Die Drogenbeauftragte vermutet deshalb: >Es ist nicht immer
gewährleistet, dass die Diagnose, die zu einer Methylphenidat-Verschreibung
führt, sauber gestellt ist.«11
Mit ihren Bedenken steht Caspers-Merk nicht allein. Auch mehr und mehr
Mediziner und Therapeuten bemängeln die inflationäre Verschreibungspraxis.
Spezialisten wie Ulrike Lehmkuhl von der Berliner Charité und Norbert Veelken
vom Hamburger Klinikum Nord sehen immer wieder Kinder, die aufgrund einer
falschen Diagnose Methylphenidat schlucken. Selbst wenn man bei Kindern ernste
Anhaltspunkte für eine gestörte Aufmerksamkeit findet, ist nur bei jedem
dritten Kind der Einsatz von Medikamenten gerechtfertigt. So wahllos die
tägliche Medikamentenschluckerei erfolgt, so diffus ist das angebliche
Krankheitsbild geblieben, das bekämpft werden soll. Der folgenreiche Stempel ?
ADHS-Kind! ? beruht stets auf dem subjektiven Eindruck des Arztes; die
diagnostischen Kriterien für das Verhalten beinhalten jedoch Attribute, die
sich bei vielen, wenn nicht bei allen gesunden Kindern beobachten lassen:
Scheint häufig nicht zuzuhören, wenn andere ihn ansprechen«, >Hat häufig
Schwierigkeiten, Aufgaben und Aktivitäten zu organisieren«, >Platzt häufig mit
der Antwort heraus«. Sind das Symptome einer Krankheit ? oder ist das eine
Liste von Verhaltensweisen, die (manchen) Erwachsenen auf den Geist gehen?
Die Ärzte kennen sich oftmals selbst nicht mehr aus und wenden die ohnehin
umstrittenen diagnostischen Hilfsmittel reihenweise falsch an. Mindestens ein
Drittel aller Kinder mit der Zappelphilipp-Diagnose, das schätzen selbst ADHS-
Befürworter, erliegen einer Modediagnose.12 Wie beliebig das Krankheitsetikett
den Kindern angehängt wird, zeigen auch die Unterschiede zwischen verschiedenen
Ländern: Studien zufolge leiden 5,8 Prozent der Kinder Brasiliens an ADHS; 7,1
Prozent aller kleinen Finnen; und in den Vereinigten Arabischen Emiraten
tummeln sich angeblich 14,9 Prozent Aufmerksamkeitsgestörte ? wie es zu solchen
Unterschieden kommt, weiß kein Mensch.13
In den USA hat sogar die Hälfte aller Kinder, die Methylphenidat schlucken
müssen, selbst nach den diagnostischen Hilfskriterien der ADHS-Befürworter,
standardisierten Beurteilungsbögen, gar kein ADHS. In der Führungsnation der
Aufmerksamkeitsgestörten werden heute achtzig Prozent des Methylphenidat-
Weltverbrauchs konsumiert. ADHS gehört dort zum Alltag wie Burger King und
McDonald?s: Rund fünf Millionen Kinder werden als ADHS-gestört bezeichnet.
Schulen in Amerika erhalten einen jährlichen Zuschuss von 400 Dollar für jeden
anerkannten Patienten ? als Aufwandsentschädigung für besonders lästige Schüler.
1999 verurteilte ein Gericht Eltern sogar dazu, ihrem Siebenjährigen das
Medikament zu verabreichen. Das Unternehmen Celltech, Hersteller eines
Methylphenidatpräparats, bewarb sein Produkt mit der hoffnungsfrohen Botschaft:
Eine Kapsel behandelt ADHS für den ganzen Schultag.«
Das National Institute of Mental Health finanziert derzeit sogar eine klinische
Studie in Kindergärten mit mehr als 300 Kindern, die gerade mal aus den Windeln
sind. Die Probanden im Alter von drei bis fünf Jahren sollen unter
wissenschaftlicher Aufsicht drei Jahre lang Methylphenidat schlucken.14
Doch ob Methylphenidat den Kindern langfristig wirklich hilft, besser zu lernen,
ist umstritten, nicht zuletzt, da es bislang kaum Langzeitstudien gibt. Die
Behandlung mit der Tablette, so das Ergebnis einer Untersuchung aus den USA,
führt langfristig weder zu besseren schulischen Leistungen noch zu einem
verträglicheren Sozialverhalten. 15
Unterdessen streiten Ärzte, Therapeuten und Eltern in den USA ebenso wie in
Deutschland munter über die Existenz und die Ursachen von ADHS.
Charakteristisch für die allgemeine Ratlosigkeit waren die Spekulationen und
Ideen, die im April 2002 bei einem Diskussionsabend im Hamburger Klinikum Nord
in den vollbesetzten Saal geworfen wurden. Eine Mutter machte Wehen hemmende
Mittel verantwortlich; eine Psychologin meinte, es gebe einfach keine festen
Grenzen mehr in der Gesellschaft; der moderierende Arzt führte die steigende
Anzahl der allein erziehenden Mütter ins Feld. Auch die uralte Vermutung der
Mainzer Apothekerin Hertha Hafer wurde wieder einmal ins Spiel gebracht. Vor
drei Jahrzehnten behauptete sie, einen gängigen Bestandteil der Lebensmittel (
und übrigens auch des menschlichen Körpers) als die Ursache von
Unaufmerksamkeit ausgemacht zu haben: Phosphate. Als Testperson erkor Hafer
damals ihren Sohn Herfried. Die Mutter fütterte den Kleinen eine Woche mit
normaler, phosphathaltiger Wurst; dann eine Woche mit einer speziellen Wurst
ohne Phosphat.
Ergebnis des Privattests: Wenn Herfried phosphatfreie Wurst bekam, verschwanden
seine Auffälligkeiten angeblich. An die Phosphattheorie glaubten Tausende: Auf
dem Schlachthof in Hamburg erschienen um sechs Uhr morgens besorgte Eltern. Sie
wollten ganz frisches Fleisch erstehen ? im Glauben, es enthalte besonders
wenig Phosphat. Dass diese >Phosphatdiät« von der Wissenschaft mehrfach nicht
bestätigt werden konnte, tut ihrer Popularität keinen Abbruch: Hafers Buch zum
Thema erscheint in der sechsten Auflage.
Als neuester Schrei gegen ADHS werden >Afa-Algen« beworben, eine Pampe aus
Bakterien. Das Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz hat im
März 2002 dringend vor diesen Mitteln gewarnt: Für die behauptete Heilkraft
gebe es >keinerlei wissenschaftliche Belege«. Zudem enthielten die Bakterien
womöglich Giftstoffe, weshalb >Kinder Afa-Algenprodukte grundsätzlich nicht
verzehren sollten«.
Obwohl kein Arzt einen ADHS-Betroffenen aufgrund seiner Gehirnstruktur erkennen
kann, ist in den vergangenen Jahren eine Lehrmeinung populär geworden, nach der
es sich um eine organische Störung handelt.16 Doch auch mit bildgebenden
Verfahren lassen sich die Gehirne von hyperaktiven und normalen Kindern
diagnostisch nicht unterscheiden. ADHS ? ein Erbe aus der Steinzeit?
Auffallendes wollen Wissenschaftler bei der Vererbung des ADHS-Syndroms
gefunden haben ? was manche Pharmafirmen in krude Theorien verpacken.
Das Sonderheft >Unaufmerksam und hyperaktiv« der Zeitschrift Kinderärztliche
Praxis (finanziell unterstützt von Novartis) spekuliert sogar, die
Hyperaktivität sei ein Erbe aus der Steinzeit, das einst auf der Jagd hilfreich
gewesen sei: >Die ADHS-Symptomatik kann als eine in früheren Zeiten
vorteilhafte (genetisch bedingte) Verhaltensausstattung angesehen werden, die
in der heutigen modernen Gesellschaft allerdings zum Nachteil wird und die
Entwicklung und die Adaptation von Kindern gefährdet.«17
Solche Spekulationen treffen bei Eltern unaufmerksamer Kinder auf offene Ohren
? weil sie die Mütter und Väter vom Verdacht freisprechen, ihre Erziehung habe
versagt. Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung war beispielsweise auf dem
Diskussionsabend im Hamburger Klinikum Nord zu hören, als ein Arzt behauptete:
Es ist Quatsch, dass ADHS durch die Erziehung entsteht.« Nachdem sie sich
jahrelang fragten, was sie falsch gemacht haben, finden Mütter und Väter Trost
in dem um sich greifenden Glauben, ADHS sei eine angeborene Erscheinung wie
angewachsene Ohrläppchen. Die fränkische Realschullehrerin Irene Braun, deren
inzwischen volljähriger Sohn seit Jahren Ritalin bekommt, glaubt ebenfalls an
die Macht der Gene. Sie sagt: >Mein Sohn war schon vor der Geburt auffällig, er
hat mich im Bauch getreten.« Auch die Mutter des kleinen Felix aus Forchheim
ist sich sicher, dass ihr Sohn an einer angeborenen Stoffwechselstörung leidet:
Ihm fehlt ein Botenstoff im Gehirn.«
Allerdings sind sich Ärzte und Biologen einig, dass ADHS keineswegs auf die
Fehlfunktion eines einzelnen Gens zurückzuführen ist. Vielmehr beeinflusst eine
Vielzahl noch unbekannter Gene das Temperament und das Konzentrationsvermögen
eines Kindes. Genau deshalb entlässt die in Mode gekommene Sicht, ADHS sei
angeboren, die Eltern keineswegs aus der Pflicht: Denn erst die Erziehung, die
Familie, die Umwelt des Kindes entscheiden darüber, ob und wie stark sich eine
genetische Veranlagung zum Zappelphilipp tatsächlich entfaltet.
Kinderpsychiater wie Benno Schimmelmann vom Universitätskrankenhaus Eppendorf
in Hamburg sprechen deshalb allenfalls von einer >genetischen Verwundbarkeit«
der Kinder
Doch von solch komplizierten, aber wichtigen Feinheiten wollen viele der
betroffenen Eltern nichts hören. Die Pharmaindustrie hilft unterdessen nach
Kräften mit, ADHS als rein biologische Störung darzustellen ? die man bequem
mit einer Pille behandeln kann. Keck behauptet beispielsweise der Medikinet-
Hersteller in Anzeigen: Methylphenidat >stimuliert den
Neurotransmitterstoffwechsel«.
Dabei ist bis heute kaum verstanden, was Methylphenidat im sich noch
entwickelnden Gehirn von Kindern tatsächlich bewirkt. Obwohl der Stoff bereits
seit 50 Jahren unruhigen Patienten verabreicht wird, stieß Nora Volkow,
Psychiaterin am Brookhaven National Laboratory in New York, erst im Sommer 2001
auf Hinweise, was Methylphenidat im Gehirn auslöst: Die Substanz blockiert
bestimmte Transport-Proteine, erhöht so die Konzentration des Botenstoffes
Dopamin in den Synapsen ? und wirkt damit ähnlich wie das Rauschgift Kokain.18
Methylphenidat hinterlässt Spuren im Gehirn Zwar scheint Methylphenidat nicht
süchtig zu machen, wenn man es als Tablette schluckt. Denn es wirkt viel
langsamer als Kokain und erzeugt nicht den typischen >Kick«. Jedoch fällt die
Substanz, wie bereits erwähnt, als Amphetamin unter das Betäubungsmittelgesetz:
Sie muss nach den gleichen restriktiven Richtlinien verschrieben werden wie
etwa Morphium ? mit dreifach ausgestelltem Rezept und der Pflicht, die
Verordnungen zehn Jahre lang aufzubewahren. Unter den Nebenwirkungen, mit denen
bei Ritalin- Einnahme gerechnet werden müsse, führt die Arzneimittelliste des
Bundesverbandes der Pharma- zeutischen Industrie (>Rote Liste«)
psychomotorische Erregungszustände, Angst, Schlaflosigkeit und Verfolgungsideen
an; nach abruptem Absetzen bei Langzeitbehandlung drohten Entzugserscheinungen.
Vielen Kindern verdirbt das Mittel zudem den Appetit.
Wie schwerwiegend die Nebenwirkungen sein können, das hat die sieben Jahre alte
Jasmin aus dem holsteinischen Norderstedt erfahren müssen. >Sie bekam nervöse
Zuckungen an den Händen, biss sich die Lippe blutig und krümmte sich abends mit
Bauchschmerzen im Bett«, sagt der Vater. Nach drei Monaten hat er die Tochter
von Ritalin erlöst und sucht jetzt verzweifelt nach einer pillenfreien Therapie.
Schließlich wird befürchtet, dass die stete Gabe von Methylphenidat das
kindliche Wachstum störe: Einer Studie zufolge blieben Dauerkonsumenten in
einem Zeitraum von zwei Jahren im Durchschnitt 1,5 Zentimeter kleiner als
Vergleichs- kinder.19
Die Furcht vor möglichen Spätfolgen lässt viele Ärzte und Eltern ebenfalls
davor zurückschrecken, die Psychodroge zu verabreichen. Die Medikamente
verändern die Rahmenbedingungen, in denen sich das kindliche Gehirn entwickelt.
Denn eines ist unbestritten: dass das Methylphenidat im Denkorgan dauerhaft
Spuren hinterlässt. So beeinflusst die Substanz, welche Gene in den
Nervenzellen an- und abgeschaltet werden. Eine Gruppe um den Göttinger
Neurowissenschaftler Gerald Hüther fand bei Tierexperimenten Veränderungen in
Nagerhirnen. Die Forscher verabreichten jungen Ratten Methylphenidat, ließen
sie erwachsen werden und untersuchten deren Gehirne: In einer kleinen
Hirnregion war die Zahl der Dopamin-Transporter um die Hälfte verringert.20
Dies könnte laut Hüther zu einem Mangel an Dopamin führen ? und damit
langfristig Parkinson auslösen. Verabreiche man Kindern Methylphenidat, warnt
der Göttinger Wissenschaftler in einem viel zitierten, umstrittenen Aufsatz,
laufe >man Gefahr, die Voraussetzungen für die Entstehung« der gefürchteten
Schüttellähmung >zu verbessern«.21
Bezeichnend für den Streit um Methylphenidat: Ausgerechnet Hüthers Kollege
Aribert Rothenberger, der die Rattenhirne gemeinsam mit ihm untersuchte,
distanziert sich von der Angst einflößenden Interpretation. Hüthers Warnungen
bezögen >ihre Überzeugungskraft« aus einer >Mischung aus Spekulation und
Teilwahrheiten«, schrieb der Direktor der Göttinger Kinder- und
Jugendpsychiatrie in einem offenen Brief an die nun vollends verunsicherten
Eltern. Der amerikanische Politologe Francis Fukuyama wendet sich entschieden
wie kein Zweiter gegen die um sich greifende Medikalisierung kindlicher
Probleme. Nicht nur Methylphenidat, sondern auch Medikamente gegen Angst und
Psychosen, Stimmungsstabilisierer und Antidepressiva werden in den USA
heutzutage doppelt so vielen Kindern und Jugendlichen verschrieben wie noch vor
einem Jahrzehnt.
Die Arzneimittelbehörde FDA hat die vermeintliche Glückspille Prozac zugelassen
für junge Menschen zwischen sieben und 17 Jahren, die depressiv und schwer
erziehbar sind.22 Fukuyama verdammt diese Pillenflut und fordert mehr Mut bei
der Erziehung. Es sei zwar >schwierig, sich für das Ertragen von Schmerz und
Leid stark zu machen«, räumt er ein. Dennoch müssten Kinder lernen, auch in der
größten seelischen Not ohne Hilfe von Psychopillen klarzukommen. Nur die
Erfahrung menschlicher Abgründe lasse andererseits >gute Gefühle« wie Sympathie,
Mitgefühl, Mut oder Solidarität zu. Fukuyama kritisiert eine jede
Pharmatherapie für die Seele.
Die moderne Gesellschaft laufe Gefahr, sich selbst jeder Entwicklung zu
berauben, wenn sie weiterhin versuche, mit Hilfe von Psychopharmaka den
gleichförmigen, immer funktionierenden Menschen zu schaffen. >Die ganze Skala
unbehaglicher und unbequemer Gefühle kann auch Ausgangspunkt für Kreativität,
Wunder und Fortschritt sein.« Methylphenidat ist in Fukuyamas Augen ein bloßes
Mittel zur sozialen Kontrolle«. Das Medikament erleichtere die >Last der
Eltern und der Lehrer und nimmt jenen, die mit ADHS diagnostiziert sind, die
Verantwortung für ihren eigenen Zustand«. Früher habe man Charakter durch
Selbstdisziplin und den Willen, gegen Unangenehmes und falsche Neigungen
anzukämpfen«, geformt, klagt Fukuyama: >Jetzt nehmen wir eine medizinische
Abkürzung, um das gleiche Ergebnis zu erreichen.«23
Dabei kann man den Kindern auch ohne Pillen helfen, beispielsweise durch simple
Änderungen im Alltag. Als Beispiel mag die Geschichte eines jungen Engländers
taugen, der Ende des 19. Jahrhunderts zur Schule ging und nach den Maßstäben
unserer Zeit wohl als hyperaktiv einzustufen ist. Um seine überschüssige
Energie abzureagieren, vereinbarte der unruhige Geist mit seinen Lehrern, dass
er nach jeder Stunde einmal um das Schulgebäude rennen durfte. Tatsächlich
wurde der Alltag dadurch erträglich ? für den Schüler und seine Lehrer
gleichermaßen. Im späteren Leben hat der Engländer dann allerdings gänzlich auf
Sport verzichtet. Sein Name: Winston Churchill
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