Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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bberlin, Sunday, 08.01.2012, 14:35 (vor 5099 Tagen) @ James T. Kirk

"Ich komme nun zu einem Zitatenspender, an dem ich meine heimliche Freude habe. Sigmar Gabriel. Er weist denselben Grad von Verwahrlosung auf. Er macht denselben Fehler (er vertauscht "Gleichberechtigung" mit "Gleichstellung"), der nicht nur ein sprachlicher Schnitzer ist. Er spricht in dem folgenden Beispiel nicht über die Quote, sondern über Lohnungleichheit, also auch über ein statistisches Artefakt – anders gesagt: über eine absichtlich falsch konstruierte Zahl, die als Verstoß gegen das Grundrecht zu einem Schreckgespenst aufgeblasen wird. Auch bei ihm machen mich die Fanfarenstöße ratlos: Warum trumpft er mit seiner Unfähigkeit, korrekt mit Statistiken umzugehen, so plump und so polternd auf? Er müsste es doch besser wissen. (Er weiß es besser).

Hören wir seinen O-Ton, doch drehen wir vorher die Lautstärke etwas runter - also: „Es ist einer der gröbsten Verstöße gegen die Verfassung, dass Frauen und Männer in diesem Land für gleiche Arbeit ungleich bezahlt werden. Das ist einer der größten sozialpolitischen Skandale in dieser Republik.“

Walter Kempowski sah im Schreiben die Aufgabe, etwas „ins Bild zu zwingen“. Das „zwingen“ gefiel mir nie, doch das mit dem „Bild“ passt schon, wie man in Franken sagt. Ich erschaffe mir immer automatisch sprachliche „Bilder“ und die flackern dann fröhlich vor dem berühmten inneren Auge. Ich versuche bei allem, was ich höre und lese, mir sofort etwas vorzustellen. Ich glaube, es geht anderen auch so. Es ist nicht bloß eine Marotte von Schriftstellern. An dem Fehlen von Anschauung kann man hohle Phrasen erkennen. Dass ich außerdem gerne etwas personifiziere und von sprachlichen Formulierungen leicht entflammbar bin, ist womöglich eine gewisse Spezialität, wenn auch kein Alleinstellungsmerkmal.

Wenn ich die Rede von Sigmar Gabriel rein stilistisch betrachte, dann juckt es mich nur. Ich habe nämlich eine Superlativ-Allergie. Doch wenn ich meinen Vorstellungen freien Lauf lasse, dann belustigen mich die Bilder. Ich sehe Szenen von einer Siegerehrung vor mir wie bei den olympischen Spielen. Oben auf dem Treppchen stehen nicht etwa zwei Sportler, die sich das Gold teilen müssen – nein mehr: da tummeln und schubsen sich die Verstoßenden (wie man heute sagt), alle wollen die Gröbsten sein und oben stehen.

Um die Verfassung steht es schlecht. Nicht nur, dass sich auf dem Treppchen mehr Leute tummeln als Platz haben. Auf dem Rasen stehen noch weitere Übeltäter, die gar nicht den Ehrgeiz haben, „grob“, „gröber“ oder „am gröbsten“ zu sein, sondern einfach nur verstoßen wollen – was schlimm genug ist. Da tröstet es auch nicht, dass „einer der gröbsten Verstöße“ gar keiner ist, weil Männer und Frauen in diesem Land eben nicht „für gleiche Arbeit ungleich bezahlt“ werden. Damit ist nur ein Gegner aus dem Rennen. Gut für die Verfassung. Schlecht für Sigmar Gabriel.

Schnellkurs: Es handelt sich nicht um „gleiche“ Arbeit, da sie weder qualitativ (was die Statistik nicht berücksichtigt) noch quantitativ (Männer kommen auf fast 40% mehr Arbeitsstunden) gleich ist. Eine Differenz zwischen zwei Durchschnittswerten, die Verschiedenes bezeichnen, ist ohne Aussagewert.

Der Skandal, den uns Sigmar Gabriel als einen der größten hinstellt, ist nicht groß, auch nicht mittelgroß, nicht klein, nicht mal winzig - es gibt ihn gar nicht. Sigmar Gabriel hat nicht nur übertrieben, er hat gelogen. Im Bundestag. Das sollte er nicht. Das habe ich nicht etwa deshalb so schnell gemerkt, weil ich mich so intensiv mit politischen Fragen befasst und weil ich in den Statistik-Kursen so gut aufgepasst hätte. Das habe ich so schnell gemerkt, weil ich einen Onkel aus Wiesbaden hatte, der mich schwer beeindruckt hat, als er mir erzählte, dass es da ein „buddhistisches Standesamt“ gibt.

Gut: Ich war noch klein. Damals mochte ich solche Scherze. Lang ist es her. Doch nun weiß ich, dass es das statistische Bundesamt in Wiesbaden nicht erst gibt, seit die SPD in der Opposition ist. Ein Schriftsteller muss die consecutio temporum beachten. Das ist nichts Besonderes: alle Krimileser wissen das. Auf die zeitliche Reihenfolge kommt es an. Wann war was? Die Frage „Wann war die Tatzeit?“ führt oft mit etwas Glück über einen kurzen, holperigen Umweg zur Antwort auf die Frage „Wer war der Mörder?“

Wie sah die Statistik aus in Zeiten, in denen die SPD in der Regierungsverantwortung war? Gaaaaanz anders – oder? Sonst hieße es ja, dass die SPD damals blind und taub gegenüber einem der größten sozialpolitischen Skandale und ohne Bewusstsein für einen der gröbsten Verstöße gegen die Verfassung besinnungslos vor sich hingewurstelt hätte. Möglich ist es. Vielleicht haben sie sogar den Schleier des Vertuschens ausgebreitet. Hat die SPD da womöglich eine Leiche im Keller? Und wenn ja: Ab wann fing die an zu stinken? Diese Frage stellt sich auch den Gewerkschaften, die bisher so erfolgreich Tarifpolitik gemacht haben und nun „plötzlich“ eine ganz neue Ungleichheit (das heißt: ein ganz neues Versäumnis auf ihrer Seite) entdecken.

Manche Probleme lassen sich nur schwer oder vielleicht sogar gar nicht lösen, weil sie echt knifflig sind. Manche lassen sich nicht lösen, weil sie nicht existieren. Weil es lediglich Probleme der Wahrnehmung sind. Da gibt es Hoffnung. Das Problem der Lohnungleich lässt sich mit etwas Nachhilfeunterricht lösen. Und die Forderung nach einer Quote sieht auch gleich ganz anders aus, wenn man sich klar macht, woher sie kommt. Der Ruf nach einer Quote ist ein Echo. Ein Echo aus dem Echoraum einer Partei, die nicht mehr auf dem Boden der Tatsachen steht. Es nicht etwas, das von draußen hineingetragen wird; es ist etwas, das von drinnen raus will. Der Ruf nach einer Quote ist eine Folge der Quote – der Quote, die sie sich einst eingefangen hat."


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