Lesekompetenz: Wenn Lernen zur Bedrohung wird
Quelle: Newsletter Wissenschaft Aktuell vom 10.05.2007
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Wenn Lernen zur Bedrohung wird: Sonderpädagogen entwickeln neuen Förderansatz [Sonderpädagogik]
Frankfurt am Main (Deutschland) - Etwa 100.000 Schülerinnen und Schüler verlassen jedes Jahr das deutsche Schulsystem, ohne richtig lesen und schreiben zu können. Ein Forscherteam der Universität Frankfurt ist jetzt der Frage nachgegangen, warum die Vermittlung dieser elementaren Kulturtechnik so massenhaft scheitert. In einem zwei Jahre dauernden Projekt haben sie einen neuen Förderansatz entwickelt und an 24 jugendlichen Fast-Analphabeten aus dem Rhein-Main-Gebiet erprobt. Für viele dieser Schüler war Lernen bisher untrennbar mit Misserfolg, Beschämung und Scheitern verbunden, schreiben die Wissenschaftler im Magazin "Forschung Frankfurt". Auch die früheren Lehrer dieser Schüler waren daran nicht immer völlig unschuldig. Darum gehörte der Computer auch zu dem neuen Konzept, weil er die nötige Distanz zwischen den Schülern und den Lehrern schuf.
Ein Schuljahr lang arbeitete ein sonderpädagogisches Forscher-Team unter der Leitung von Dieter Katzenbach und Gert Iben von der Universität Frankfurt mit 24 lese- und schreibschwachen Jugendlichen aus dem Rhein-Main-Gebiet zusammen. "Wir entwickeln mit jedem Schüler ein individuelles Lernangebot, arbeiten nicht mit fertigen Maßnahmenkatalogen -- und wir nutzen die 'neuen Medien' als Türöffner in die Schriftkultur", erklärt Katzenbach. Der Computer ist dabei nicht nur Trainingsgerät, sondern Werkzeug zur Textproduktion und eignet sich zudem, das Verhältnis von Nähe und Distanz in der Beziehung zwischen Schüler und Pädagoge zu regulieren. "Denn diese Schüler waren wiederholt kränkenden und entwertenden Beziehungserfahrungen im Kontext des schulischen Lernens ausgesetzt. Daher kann zu viel Nähe von den Pädagogen auf diese Jugendlichen auch bedrohlich wirken", erläutert Gerd Iben. Von den 24 Schülern hatten 18 nach dem Projekt deutliche Fortschritte gemacht.
Um ein individuelles Lernangebot zusammenstellen zu können, haben Pädagogen und Schüler gemeinsam nach Themen gesucht, die für die Jugendlichen so reizvoll waren, dass sie sich noch einmal auf das Wagnis des Lesen- und Schreibenlernens einließen. Den Förderschülern war klar, dass sie eigentlich lesen und schreiben können müssten. Aber keiner von ihnen konnte zu Beginn der Förderung angeben, was man persönlich davon haben könnte, diese Kulturtechnik zu beherrschen. Die älteren Schüler verknüpften den Schrift-Sprach-Erwerb und die Verbesserung ihrer schriftsprachlichen Fähigkeiten häufig mit konkreten -- wenn auch zuweilen illusionären -- beruflichen Zielen. "Das Lernen dient nicht der expansiven Erweiterung ihrer Eigenwelt, sondern primär der Vermeidung weiterer Demütigungen", erklärt Katzenbach. "Die Förderung durfte sich daher nicht darauf beschränken, die Techniken des Lesens und Schreibens zu vermitteln, sondern vielmehr den Sinn des Lesens und Schreibens für die Schülerinnen und Schüler erfahrbar zu machen. Und dies konnte wiederum nur an Themen und Inhalten gelingen, denen sie selbst eine Bedeutung beimessen."
Lernwiderstände können auch eine Form von Selbstschutz sein, fanden die Forscher heraus. Lernen ist für diese Jugendlichen keine Herausforderung, sondern ein kaum kontrollierbares Risiko, das durch Misserfolg, Beschämung, Scheitern und Ausgrenzung geprägt ist. Auch das Team der Universität Frankfurt begegnete zu Beginn der Arbeit offener Verweigerung, resignativer Passivität und Lustlosigkeit. Sehr häufig beschrieben sich die Schüler selbst mit "ich bin krank / ich bin behindert". Die Sonderpädagogen nahm aber diese Reaktion zum Anlass, gemeinsam mit den Schülern nach den Ursachen für diese Ängste und Sorgen zu schauen und positive Impulse, wie das Erstellen einer eigenen kleinen Web-Seite, zu vermitteln. In dem integrierenden Förderansatz, der fachdidaktische Aspekte und sozialpädagogische Angebote verbindet, sieht das Frankfurter Team den Weg zu besseren Erfolgen. Doch dafür muss sich in der deutschen Schullandschaft noch einiges ändern. So sind beispielsweise Erziehungsberatungsstellen oder psychotherapeutische Dienste weder inhaltlich noch institutionell auf die Arbeit in der Schule abgestellt. "Statt Nebeneinander müssen alle Beteiligten zu einem Miteinander in der Schule finden", fordert Katzenbach. (wsa070507dm1)
Autor: Doris Marszk
Quelle: Universität Frankfurt
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Wer gegen Monster kämpft, muss achtgeben, nicht selbst zum Monster zu werden - Nietzsche