Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

Archiv 2 - 21.05.2006 - 25.10.2012

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Im Zweifel gegen den Täter?

Mus Lim ⌂, Thursday, 30.06.2011, 06:13 (vor 5296 Tagen)

Wer das Opfer eines Verbrechens ist, sollte mehr Aufmerksamkeit erfahren als jemand, der durch eine nur zivilrechtliche Folgen auslösende unerlaubte Handlung oder eine Vertragsverletzung zu Schaden gekommen ist. Man muss sich fürsorglich darum kümmern, man muss auch dafür sorgen, dass er/sie, soweit das möglich ist, materiell entschädigt wird, in einfacheren, an den Grundsatz amtlicher Aufklärung gebundenen, nicht durch zivilprozessuale Beweislastregeln erschwerten Verfahren. Hier ist das Nötige bisher nicht geschehen.

Weil das so ist, gehen die Reformanstrengungen einen anderen, den wirklichen Problemen ausweichenden, bequemeren Weg: Das Opfer soll so vielseitig wie möglich am Strafprozess gegen den Täter beteiligt, aber ebenso auch vor Nachteilen geschützt werden, die der Strafprozess gegen den Täter für das Opfer, etwa in der Rolle als Zeuge, mit sich bringt. Offenbar waren diese seit Jahr und Tag geltenden neuen Regelungen leichter durchzusetzen als eine Verbesserung der materiellen Situation des Opfers - vielleicht deshalb, weil es schon vieles gab, woran man anknüpfen konnte: Nebenklage und Privatklage, Strafantrag und Klageerzwingungsverfahren. Lange hat man in diesen Institutionen nichts anderes gesehen als eine widerwillige Konzession an die neben dem öffentlichen Strafanspruch weiter bestehenden Bedürfnisse des Opfers, einen eigenen Anteil an der Bestrafung des Täters zu haben.

Später ändert sich diese Auffassung. Dem Opfer soll das Recht auf Genugtuung durch die staatliche Bestrafung des Täters zugestanden werden. Freilich kann das nur halbherzig geschehen, keineswegs wird eine die staatsanwaltschaftliche Zuständigkeit ergänzende Kompetenz geschaffen. Vielmehr soll die Prozessbeteiligung nur Kontrollmöglichkeiten eröffnen. Aber wenn das Opfer keinen eigenen Strafanspruch hat, weshalb soll es dann die staatliche Strafverfolgung kontrollieren dürfen? Darauf scheint es keine andere Antwort zu geben als die, dass unsere Rechtsordnung gerade dort, wo die Schwere der Eingriffe, die sie ermöglicht, eigentlich äußerste Klarheit fordert, in Paradoxien versinkt. ...

Der Ursprung des öffentlichen Strafanspruchs ist nach wie vor unzureichend erforscht. Mit einiger Sicherheit kann man so viel sagen: Im hohen Mittelalter entstehen Herrschaftsformen, die - ohne schon das zu repräsentieren, was wir heute Staat nennen - den Anspruch erheben, schwere Rechtsverletzungen nicht mehr dem Ausgleich zwischen Schädiger und Geschädigtem zu überlassen, sondern obrigkeitlich zu ahnden. Direkt gegen die Herrschaft gerichtete Delikte - wozu bei starker kirchlicher Färbung auch Religionsdelikte zählen - treten dabei zunächst in den Vordergrund. Nach und nach werden aus den Herrschaftsinteressen veritable Staatsinteressen, gipfelnd in der Apotheose des Staates im Zeitalter des Absolutismus, dessen administrative Konsequenzen, merkwürdig genug, indessen erst im 19. Jahrhundert richtig gezogen werden. Allmählich erstreckt sich der staatliche Strafanspruch auch auf Delikte gegen den Einzelnen, und das schließt die Beteiligung des Opfers am Strafanspruch endgültig aus. Liberalisierung, Humanisierung, Rationalisierung und Säkularisierung durch die „Aufklärung“ hätten dann eigentlich dazu führen müssen, das Öffentliche im staatlichen Strafanspruch eher darin zu sehen, dass die Strafe im Interesse eines Gemeinwohls liegt, das mit dem Staat nicht identisch ist.

Könnte man nun nicht sagen, dass eine moderne Konzeption des Gemeinwohls jenes Genugtuungsinteresse des Opfers, insbesondere dann, wenn Individuen betroffen sind, in sein Programm nicht nur aufnehmen, sondern ihm darin einen bevorzugten Platz einräumen sollte? Die kriminalpolitischen Aktivitäten, die sich seit den späten achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts förmlich zu einer "Opferbewegung" ausweiten, sind zweifellos von dieser Intention getragen. Aber mit welchem Strafzweck soll sich dieser Respekt vor dem Genugtuungsbedürfnis des Opfers eigentlich verbinden? Die Strafzwecke haben vielerlei Wandlungen erfahren, an erster Stelle steht jetzt der Strafzweck der Resozialisierung. Das sei nun das Letzte, was er von der Bestrafung erwarte, sagt der wegen eigener leidvoller Erfahrungen besonders überzeugend den Opferstatus verwaltende Schriftsteller Jan Philipp Reemtsma. Dazu passt, dass die für die Stärkung der Opferrechte werbenden politischen Richtungen betonen, das moderne Strafrecht konzentriere sich zu sehr auf den Täter. Natürlich soll die Resozialisierung dem Täter für sein künftiges Leben helfen, aber dies doch auch im Interesse anderer, die von einem resozialisierten Täter nichts mehr zu befürchten haben. Insofern ist es immer seltsam gewesen, dass zwischen Opferschutz und Resozialisierung ein Gegensatz konstruiert worden ist. ...

Klaus Lüderssen: Im Zweifel gegen den Täter?, FAZ am 16. Juni 2011

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Jan Philipp Reemtsma ist auch Täter, er profitiert vom Leid und Elend anderer...

Kritiker, Thursday, 30.06.2011, 09:58 (vor 5296 Tagen) @ Mus Lim

- kein Text -

Jan Philipp Reemtsma ist auch Täter, er profitiert vom Leid und Elend anderer...

Che Guevara, Thursday, 30.06.2011, 13:07 (vor 5296 Tagen) @ Kritiker

Zwingt er sie mit vorgehaltener Waffe, Kippenpäckchen zu kaufen und zu rauchen ?

Jan Philipp Reemtsma ist auch Täter, er profitiert vom Leid und Elend anderer...

Kritiker, Friday, 01.07.2011, 09:54 (vor 5295 Tagen) @ Che Guevara

Zwingt er sie mit vorgehaltener Waffe, Kippenpäckchen zu kaufen und zu
rauchen ?

Nein, tut aber der Drogendealer an der Ecke auch nicht, dennoch wird sein Handeln allg. als verwerflich und juristisch als strafbar eingestuft.

Die Zigarettenidustrie verführt wie ein Drogendealer, auch und vor allem Jugendliche und Kinder zum Konsum.

Sie sorgt mit div. Inhaltsstoffen dafür, dass das Suchtpotential gegenüber dem Suchtgrundstoff Nikotin vervielfacht wird.

Sie ignoriert und leugnet bis heute immer noch die verheerenden negativen Folgen die der Konsum ihrer Produkte hat.

Darüber hinaus ist Rauchen die so ziemlich dümmste aller Süchte, stehen doch Nutzen (pers. Gewinn) und pot. Schaden in einem krassen Missverhältnis.

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