Was man so alles nicht erfährt
Hallo allerseits!
Vor ein paar Tagen wurde in den deutschen Haupt-Nachrichtensendungen gemeldet, in Polen seien Verfassungsänderungen gescheitert, die, wären sie angenommen worden, u.a. ein totales Abtreibungsverbot zur Folge gehabt hätten.
Das ist so, als wäre der Tsunami auf den Philippinen als "kurzer Regenschauer" verkauft worden.
In Tat und Wahrheit ist Polen durch den Streit über die Abtreibungsfrage in eine veritable Staatskrise gestürzt und wird auf unabsehbare Zeit unregierbar bleiben.
Folgendes ist wirklich geschehen:
Die polnische Regierungskoalition besteht aus drei Parteien
PiS ("Recht und Gerechtigkeit") , die größte Regierungspartei;
Samoobrona ("Selbstverteidigung"), im Deutschland als "radikale Bauernpartei" bekannt, mit dem schillernden Andrzej Lepper als Vorsitzenden;
LPR ("Liga der polnischen Familien") - streng katholisch und nationalistisch.
Die LPR wollte den Schutz menschlichen Lebens von der Empfängnis an in der Verfassung verankern. In der Praxis wäre dies auf ein vollständiges Verbot der Abtreibung hinausgelaufen. Als Alternative dazu stand ein Vorschlag von Staatspräsident Kaczynski zur Abstimmung, der eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts ausgeschlossen und ebenfalls den Schutz menschlichen Lebens in der Verfassung festgeschrieben hätte. Für den letzten Antrag, den ein Parlamentsausschuss ausgearbeitet hatte, stimmten 269 Abgeordnete bei 121 Gegenstimmen und 53 Enthaltungen. Diesem Antrag zufolge wäre die Verfassung durch den Zusatz ergänzt worden, dass der Mensch «Würde vom Moment der Empfängnis an verdient>.
Kaczynski hatte sich unmittelbar vor dem letzten Antrag an die Abgeordneten gewandt und an alle appelliert, «denen am Schutz des Lebens liegt>, doch noch für den letzten Antrag zu stimmen. «Es besteht eine Chance, die Verfassung zu ändern>, sagte er angesichts der hohen Zahl von Enthaltungen bei zwei Anträgen der nationalistischen Liga Polnischer Familien (LPR) und zwei Anträgen zu einem Vorschlag von Staatspräsident Lech Kaczynski. Der LPR-Vorsitzende und stellvertretende Ministerpräsident Roman Giertych nannte das Abstimmungsergebnis eine «empfindliche Niederlage>.
So erhielt letzten Endes keiner der insgesamt fünf Anträge, die den Schutz menschlichen Lebens von der Empfängnis an in der Verfassung festschreiben sollten, die notwendige Zwei-Drittel- Mehrheit. Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski sprach anschließend von einem «traurigen> Tag im Parlament und «hässlichem politischen Spiel>.
Das polnische Abtreibungsrecht gehört auch ohne die gescheiterten Verfassungsänderungen zu den restriktivsten in Europa. Ein Schwangerschaftsabbruch ist nur nach einer Vergewaltigung, bei Gefahr für das Leben der Mutter oder bei einer schweren Schädigung des Fötus erlaubt.
Nach der oben geschilderten Abstimmung im Sejm legte Marek Jurek, Präsident ("Marschall") des Sejm und Mitglied der PiS, das Marschallamt nieder und trat aus seiner Partei aus.
"Unbestätigten Gerüchten" aus "gut informierten Kreisen" zufolge soll es nicht so sehr das Abstimmungsergebnis alleine gewesen sein, daß Jurek zu seinem Schritt veranlaßte, sondern die Art und Weise, wie diejenigen Abgeordneten seiner Partei, die zusammen mit den Abgeordneten der linken und liberalen Parteien alle Verfassungsänderungen zu Fall brachten, mit ihm umsprangen. Angeblich soll er u.a. angeblafft worden sein: "Dein Gewissen laß gefälligst in der Kirche". Will sagen: In der Politik zählt Pragmatismus, und der gebietet, die Mehrheit nicht dadurch aufs Spiel zu setzen, daß man es sich mit dem Teil des Parlaments und der polnischen Gesellschaft verdirbt, der gegen ein kompromißloses Abtreibungsverbot mit Sicherheit aktiv rebellieren würde.
Mit eben diesen Argumenten hatten bereits in den Wochen zuvor beide Kaczynski-Brüder von jeglicher Verfassungsänderung in Sachen Abtreibung abgeraten. Nachdem jedoch die LPR immer harscher auf eine drastische Verschärfung der diesbezüglichen Rechtsvorschriften drängte, schlug Präsident Lech Kaczynski als Alternative zum radikalen LPR-Projekt die oben beschriebene Änderung vor, von der er selber sagte, sie seien nur eine Bestätigung des Status quo und würden zwar eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts verhindern, ebenso jedoch eine Verschärfung.
Derzeit erwägen 10 bis 60 Abgeordnete der PiS, Jurek zu folgen und mit ihm eine neue Partei zu gründen. Begründung: "Wenn unsere Partei die wichtigsten katholischen Werte verrät, dann ist dies nicht mehr unsere Partei."
Diese Drohung muß man vor dem Hintergrund folgender Sitzverteilung im Sejm betrachten:
Regierungsparteien
PiS 153
Samoobrona 46
LPR 29
Oppositionsparteien:
PO (der deutschen FDP vergleichbar) 131
SLD (Sozialdemokraten) 55
PSL (gemäßigte Bauernpartei) 25
RLCH (National-Christliche Bewegung) 8
RLN (National-Völkische Bewegung) 3
Fraktionslos 10
Selbst bei Neuwahlen, von denen immer häufiger gesprochen wird, ist nicht ersichtlich, wo eine sowohl zahlenmäßig stabile als auch von der Programmatik her einigermaßen kohärente Koalition herkommen sollte.
Und eine Ein-Parteien-Regierung ist nach dem polnischen Wahlrecht aus denselben Gründen wie beim deutschen Wahlrecht, an dem die Polen sich nach 1989 erklärtermaßen orientierten, pure Theorie.
Angesichts dieser Situation, die das Schlimmste befürchten läßt, kam die EM-Vergabe an Polen und die Ukraine wie gerufen, um die Nation zumindestens emotional wieder zu einen.
Nur:
Weder die Freude über den Zuschlag noch die jetzt notwendigen Anstrengungen entbinden die politische Klasse vom Regieren - und wenn das Land anderweitig nicht mit sich selbst klarkommt, sehe ich auch für die EM-Vorbereitung schwarz.
Und in der Ukraine sieht's ja politisch mindestens ebenso schlimm aus.
Nur daß über die Ukraine in allen Einzelheiten berichtet wird, während die Vorgänge in Polen beschwiegen oder bagatellisiert werden.
In Sorge um seine Wahlheimat Polen
Ekki
--
Ich will ficken, ohne zu zeugen oder zu zahlen.
Lustschreie sind mir wichtiger als Babygeplärr.