das Rad des Lebens...
Servus!
Je älter ich werde, um so nachdenklicher gestalten sich so manche Abende. Die Zeit, die ich bis dato gelebt habe, ist weit mehr, als diejenige, welche mir noch zu leben bleibt; der graue, bald weiß gewordene Steppenwolf grinst mich an, sobald ich frühmorgens meines Spiegelbildes angesichtig werde. Na, Servus, wer bist du denn... sage ich da im Stillen zu mir... ich (er-)kenne dich zwar nicht (mehr), aber als der nette Mensch, als den ich mich nun mal erachte, wasche ich dich halt trotzdem...
Beide Töchter sind flügge geworden und ins Leben hinaus entflogen, ihren Papa lieben sie zwar inniglich, das weiß ich Glücklicher, aber... Es schadet nicht, daß ich mir rechtzeitig klar gemacht habe, daß man die eigenen Kinder nur zu einem geringen Bruchteil deren eigenen Lebens für sich selber haben darf. Die meiste Zeit verbringen sie irgendwo da draußen, dort... im Leben... Schwer genug bleibt es für die Alten, die zurückbleiben, ja... zurückbleiben müssen, und schon immer war das so, und so muß auch es auch sein. 100 Mal habe ich mir Sorgen gemacht und sehnlichst gewünscht und gebetet, daß alles gut gehen möge... Als 20-jähriger Stürmer und Dränger hatte ich es damals ja auch nicht anders gehalten... damals... und anders werden es deren Kinder dereinst auch nicht halten; Gott möge sie behüten und alles zum Guten wenden; ich selber hoffe inständig, daß ich wirklich alles richtig gemacht und meine Äcker gut bestellt, den beiden beigebracht habe, zwischen richtig und falsch, gut und böse unbedingt zu unterscheiden, den Menschen respektvoll, und, falls möglich oder nötig, mit freundlicher Hingabe zu begegnen... Ja, ich, ganz der stolze Papa... ich liebe die zwei abgöttisch, wild, zärtlich und bis zu meinem letzten Blutstropfen; täte ihnen jemand etwa zu Leide, dann existierte für mich vom selbigen Moment an keinerlei Gewaltenteilung mehr; ich schwöre es... Nun liegt das Haus so merkwürdig still und ruhig... still und ruhig...
Was wispert mir diese ungewohnte Stille zu? Sie erzählt mir die Geschichte des Lebens: Andauernd trennen wir uns, müssen wir uns trennen: Das Baby hat sich von der schieren Physis seiner Mutter getrennt, später trennen wir uns von Kindheit und Jugend und vor allem... von unserer Unschuld, die uns elementar soeben noch als Kinder gekennzeichnet hatte: Wir werden unserer eigenen Begrenztheit, unserer Sterblichkeit... und auch unserer Schuldfähigkeit gewahr... Später, mit Mitte, Ende 20, trennen wir uns von den ersten geliebten Menschen: Den Großeltern, sowie deren Generation... Wir leben und leben und leben... gründen Familie und geben unsererseits wieder junges Leben, das sich seinerseits sogleich zu trennen beginnt... Wiederum viel später trennen wir uns von den Eltern... Die eigenen Kinder, nunmehr erwachsen geworden, trennen sich von uns... und jetzt stehen wir selber an der vordersten Trennlinie des Lebens... fürwahr...
Gekommen sind sie, all die Jahre, und auch wieder gegangen; ich bin geblieben, einem Monolithen gleich; längst schon benötige ich eine Lesebrille für die schwächer gewordenen Augen, der Reif des Lebens legt sich in mein Wesen und Eisblumen ranken sich darinnen empor, um mir zu verstehen zu geben: Der Umlauf meines Lebensrades beginnt sich zu runden; die Dinge... sie laufen allmählich langsamer... Ich muß nicht mehr überall der erste, der größte, der beste, der klügste, der glühende, stolze Heißsporn sein, nein... schon längst nicht mehr... andere, jüngere mögen schreiten voran... Ihrer ist die Welt...
Der Kelch des Lebens geht zur Neige mit den Jahren; verweile doch, Du bist so schön... oh ja... gelebt habe ich oftmals wild, und genossen habe ich jene Stunden, als hätten sie niemals mehr zu Ende gehen können...! Das seit alters her Gewohnte, Gehabte und Geliebte rückt in seiner hochschwangeren Bedeutungswucht wie von ganz alleine in den Hintergrund... Ja, natürlich... wenn das Frühjahr Einzug hält in mein Leben, wenn mir Eduard Mörikes ?Frühlingslied? das Ohr erfreut, wenn der betörend süße Duft neu erblühenden Lebens in einer sanften Brise mich in schieres Entzücken versetzt, dann betören auch mich wieder die jungen, hübschen Frauen, wenn sie aufreizend und luftig bekleidet durch den Park scharwenzeln, im Brustton der Überzeugung, das ganze Leben sei gewißlich ihres... süßer Vogel Jugend; fürwahr! Und recht haben sie... und recht habe auch ich, wenn ich nach wie vor den Goldmund sich heftig in mir rühren verspüre...
Früher... ach mein Gott... früher habe ich vielen Weiberröckchen hinterher gepfiffen; früher, ja... früher... Nicht, daß ich auch heute noch an einer gepflegten Rohrverlegung etwas auszusetzen hätte, nein... immer noch funktioniert das wie gewünscht wie am Schnürchen; allein... es beginnt so nach und nach schal zu schmecken... schal wie ein oft gehabtes Déjà-Vu... Es beginnt mich zu langweilen...
Die Suche nach Beständigem vor den Zeiten, die Fragen nach meinem Wer und meinem Was, nach meinem Woher und meinem Wohin, die Frage nach Warum und Warum nicht... Ich weiß, ich weiß... ich weiß sehr wohl, daß es Antworten nicht wird geben können hienieden... die grüblerischen Fragen indessen bleiben bestehen trotz alledem... Wir müssen uns gedulden...
carlos