Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Alice Scharzer: Niedrigkeit bündelt meinen Zorn

Christine ⌂, Saturday, 06.01.2007, 14:35 (vor 6910 Tagen)

Von Roger Köppel

Erstmals stünden Frauen alle Tore offen, sagt Alice Schwarzer. Ist damit der Feminismus am Ziel? Mitnichten. Die Emma-Gründerin hat längst neue Gefahren ausgemacht: Magersucht, neuer Mütterkitsch und gekränkte männliche Amokläufer.

Frau Schwarzer, was machen Sie eigentlich, wenn Sie sich nicht mit der Sache der Frau beschäftigen?
Mich interessiert alles ausser Sport. Diesen Luxus leiste ich mir. Dann gibt es Domänen, in denen ich bedauerlicherweise nicht ausreichend gebildet bin, Naturwissenschaften zum Beispiel. Sonst bin ich in Bewegung. Mich interessiert, was aufkommt.

Was war das letzte Buch, das Sie beeindruckt hat?
«Narben der Gewalt> von der amerikanischen Psychiaterin Judith Herman. Sie untersuchte die Folgen der privaten Gewalt mit dem Instrumentarium, das durch die Analysen der Traumata von Kriegsveteranen und KZ-Überlebenden erarbeitet wurde. Und siehe da: Prostituierte haben ähnliche Traumata wie Vietnam-Veteranen. Das Thema ist düster, aber die Brillanz der Argumentation mitreissend.

Haben Sie den Bestseller «The Female Brain> gelesen? Darin wird festgehalten, dass Frauen anders denken als Männer. Das Buch liest sich wie eine Widerlegung der meisten Ihrer Thesen.
Na, da hat die Weltwoche ja jüngst auch drei Folgen zu gebracht: zum eternellen kleinen Unterschied. Und am Schluss haben Sie einen Züricher Neurologen befragt - und der hat Ihnen alles vom Tisch gewischt. Gene, Hormone, Hirnhälften - das alles sind einzelne Elemente eines grossen Bündels von Faktoren, die uns prägen. Aber kein einzelner dieser Faktoren determiniert den Menschen. Alles ist im Fluss. Wissen Sie, für mich ist diese ganze neu aufflammende Biologismus-Debatte einfach die westliche Variante des islamischen Fundamentalismus. In beiden Fällen geht es um Angst vor Freiheit und Verantwortung - und die Flucht in ewige, unverrückbare Gewissheiten. Und nicht zufällig geht es auch beide Male um die Gewissheit, dass Männer Männer bleiben - und Frauen Frauen.

Stören Sie Etiketten wie «Feministin> und «Emanze>?
Ich habe noch nie ein Abzeichen getragen. Mir ist jede Etikettierung fremd. Selbst in den Hoch-Zeiten des Feminismus habe ich keine Frauenzeichen getragen...

Weil Sie selber eins waren.
Unsinn. Ich war auch in meinen eigenen Kreisen immer die Dissidentin, die Unangepasste. Ich habe auch in den Augen meiner Kreise oft das Falsche getan, manchmal vorsätzlich. Aus Übermut. Als alle Frauen in Parka und Jeans herumliefen, kam ich mit Kleidern. Der Feminismus ist eine grosse Denktradition mit Strömungen, mit denen ich wenig zu tun habe. Meine Grundprämisse lautet: Das Verhältnis der Geschlechter ist ein Machtverhältnis. Und es ist wünschenswert, dass alle Menschen Menschen sind, unter anderem auch Männer oder Frauen, Deutsche oder Schweizer. Und dass Frauen und Männer gleiche Rechte und Chancen haben. Das lasse ich mir nicht peinlich reden.

Welche Ihrer Eigenschaften werden verkannt?
Man hat die Differenziertheit meiner Argumentation oft auf stumpfsinnige Thesen reduziert. Alle Frauen seien Opfer, alle Männer Täter. Das ist dummes Zeug. Diese Einengung kränkt mich bis heute.

Hat man Sie bestraft dafür, dass Sie aus dem Mainstream ausgebrochen sind?
Ganz klar. Man wollte mich einschüchtern, vielleicht auch ins juste milieu zurückholen. Als ich von Frankreich nach Deutschland kam, wurde ich als unbeschriebenes Blatt noch nach meinen Meinungen gefragt, zur französischen Innenpolitik, zum Gaullismus, zu den Arbeitskämpfen. Das hörte schlagartig auf, als ich mich für die Sache der Frauen zu engagieren begann. Plötzlich hiess es, selbst von einst Kolleginnen: Mein Gott, Alice, du warst so eine brillante Journalistin, aber jetzt machst du nur noch dieses Frauenzeugs.

Wurden Sie jemals wankelmütig?
Nein, die Versuchung hat es nie gegeben. Ich kann nicht hinter einmal Erkanntes zurückfallen. Und wenn man mir niedrig begegnet, macht mir das keine Angst. Das Leben hat mir eine wunderbare Fähigkeit mitgegeben: Niedrigkeit empört mich. Niedrigkeit bündelt meinen Zorn. Dann schlage ich zurück.

Sie wirken gelöst. Waren Sie früher aggressiver?
Heute bin ich etwas subversiver, schlauer. Ich arbeite stärker mit Ironie und Humor, was mir entgegenkommt.

Sie haben für die Frauen einen Befreiungskampf ausgetragen. Was ist das Wichtigste, um solche Kämpfe zu gewinnen?
Ich habe schon in meiner frühen Kindheit in meiner vielfach marginalisierten Familie - als Antinazis, als deklassierte Bürgerliche, als städtisch-rheinische Evakuierte im fränkischen Dorf - lernen müssen, die Navette vom Rand zur Mitte zu machen. Ich war immer die Vermittlerin. Wir waren Rheinländer und Kulturprotestanten, ich ging in dem fränkischen Dorf in die katholische Kirche, habe Blümchen gepflückt und war die Erste in der Prozessionsreihe. Ich musste verhindern, dass wir ganz abdriften. Ich halte es also sehr gut aus, danebenzustehen, ohne eine Aussenstehende zu sein. Ich habe aber nicht um jeden Preis das Bedürfnis dazuzugehören. Mein Massstab sind die Menschen, die ich schätze. In meinem Umfeld fordere ich Kritik heraus: Kritik, die mich an meinen eigenen Möglichkeiten und Massstäben misst.

Heute stimmen Ihnen doch alle zu. Es traut sich fast niemand mehr, Sie zu kritisieren.
Tatsächlich? Und wenn, es stört mich nicht, recht zu haben.
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Wer das komplette Interview lesen will, möge hier weiterlesen.

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Es ist kein Merkmal von Gesundheit, wohlangepasstes Mitglied einer zutiefst kranken Gesellschaft zu sein

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