Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

Archiv 1 - 20.06.2001 - 20.05.2006

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@ Garfield

carlos, Saturday, 23.07.2005, 02:15 (vor 7444 Tagen)

Servus, Garfield!

*Dazu muß man wissen, daß es in der Sowjetunion nach Stalins Tod zunächst Tendenzen gab, den Kalten Krieg durch Zugeständnisse an den Westen abzumildern oder gar zu beenden. U.a. dachten manche einflußreiche Personen ernsthaft über einen Rückzug aus Ost-Deutschland nach. Man hatte ja mittlerweile an deutscher Technologie aus der Kriegszeit so ziemlich alles abgeschöpft, man hatte durch Demontagen und Reparationen auch schon viel aus Ost-Deutschland heraus gezogen, und so gab es dort nicht mehr viel zu holen, während andererseits das Risiko eines Kriegsausbruchs in Deutschland besonders hoch war. Ob es letztendlich wirklich zu einem Rückzug der Sowjets aus der DDR gekommen wäre, ist natürlich keineswegs sicher, aber es hat tatsächlich solche Überlegungen gegeben. Wenn sich dieser Kurs nur ein wenig durchgesetzt hätte, dann hätte man zumindest Ulbricht weit weniger unterstützt, und das hätte dann auch schon eine Veränderung der Machtverhältnisse in der DDR bewirken können. Wenn aber die Sowjets damals schon ihre Truppen aus Ost-Deutschland abgezogen und Ulbricht ganz fallen gelassen hätten, dann wäre die deutsche Wiedervereinigung vermutlich sehr viel eher erfolgt.*

Aha. Für die diesbezüglichen, sowjetischen Pläne jener „einflußreichen Personen“ (von wem, wann und warum) hätte ich ganz gerne einen sehr schönen, sehr, sehr guten Beleg, wenn Du’s einrichten könntest. Ulbricht war übrigens erst 1953 an die Macht gekommen.

*Durch den Aufstand vom 17. Juni änderte sich dann aber alles. Der bewirkte, daß diejenigen in der Sowjetunion, die zu Zugeständnissen bereit waren, ihre Position noch einmal überdachten, während diejenigen, die den harten Kurs aus Stalins Zeiten weiter verfolgen wollten, sich bestätigt fühlten. Letztendlich setzte sich dann die letzte Gruppe durch. Und auch in der DDR selbst war die Wirkung sehr ähnlich. Ulbricht nutzte diesen Aufstand, um seine Gegner auszuschalten und seine Macht zu festigen. So wurde die Teilung Deutschlands für Jahrzehnte zementiert, und der Auslöser dafür war paradoxerweise der Aufstand vom 17. Juni 1953. Noch paradoxer wird das, wenn man bedenkt, daß dieser Aufstand auch noch durch Agenten westlicher Geheimdienste verschärft worden ist, die sich dabei mit Sicherheit auch exakt das Gegenteil des letztendlichen Ergebnisses erhofft haben.*

Hm... lieber Garfield... „Paradox“ läßt sich nicht steigern... ;-) ... nur so nebenbei... Daß die Hetze westlicher Agenten damals derart rattenscharf war, daß die Arbeiter im Osten ja gar nicht anders konnten als zu revoltieren und daß die Anhebungen des Arbeitsplansolls durch die SED („Bauch, Bart und Brille sind nicht Volkes Wille!“), sowie der permanente Mangel an allem Lebenswichtigen, im Verhältnis zur westlichen Zersetzungs- und Wühlarbeit, letztlich läppischen Marginalien gleich kamen... also die westlichen Zersetzer die totale, gigantische Super-Hauptschuld an den Toten des 17. Juni 1953 trugen... ja, dafür hätte ich auch gern einen schönen Beleg; natürlich nur, wenn du es auch einrichten kannst... Auch die Leute, deren Kreuze am Checkpoint Charly die Tage leider abgeräumt werden mußten, wären Dir posthum für jegliche erhellende Auskunft sicher dankbar.

*Dummerweise läßt sich nämlich nie genau vorhersehen, was bei so einer Revolte herauskommen wird.*

Da hast du natürlich recht, aber das ist eines der Prinzipien von Revolten wie Revolutionen gleichermaßen, zu denen ich gar nicht aufgerufen habe. Ist aber ein anders Thema.

Grüße,
carlos

Re: @ Garfield

Garfield, Monday, 25.07.2005, 12:58 (vor 7441 Tagen) @ carlos

Als Antwort auf: @ Garfield von carlos am 22. Juli 2005 23:15:

Hallo Carlos!

"Für die diesbezüglichen, sowjetischen Pläne jener „einflußreichen Personen“ (von wem, wann und warum) hätte ich ganz gerne einen sehr schönen, sehr, sehr guten Beleg, wenn Du’s einrichten könntest. Ulbricht war übrigens erst 1953 an die Macht gekommen."

Ja, und 1953 war ja auch das Jahr, in dem Stalin gestorben ist (im März).

Nach Stalins Tod entstand zunächst erst einmal ein gewisses Machtvakuum. Er hatte ja zu Lebzeiten wie viele Diktatoren auch viele Gegner gehabt, die sich nur häufig klugerweise zurückhielten. Nach seinem Tod gaben sie ihre Zurückhaltung auf, und innerhalb der KPdSU begann ein "Entstalinisierungsprozeß". Paradoxerweise wurde dieser Prozeß vor allem von Innenminister Berija vorangetrieben, der zu Stalins Zeiten eine wesentliche Säule von Stalins Herrschaft gewesen war.

Zusammen mit Malenko machte Berija sich nach Stalins Tod daran, seine Machtstellung auszuweiten, indem er sich neben dem Innenministerium auch noch das Staatssicherheitsministerium unterstellen ließ. Das machte andere hohe KPdSU-Funktionäre sehr mißtrauisch - sie fürchteten, vom Regen in die Traufe zu kommen, wenn Berija Stalins Nachfolge antreten würde. Außerdem waren viele von ihnen ja ebenfalls in Stalins Machenschaften verstrickt und befürchteten, ebenfalls von der "Entstalinisierung" betroffen sein zu können.

Aber erstaunlicherweise trat Berija gar nicht in Stalins Fußstapfen. So waren im Januar 1953 9 Kreml-Ärzte verdächtigt worden, von westlichen Geheimdiensten dafür bezahlt worden zu sein, hohe KPdSU-Funktionäre zu vergiften. Im April 1953 ließ Berija das Innenministerium bekannt geben, daß die "Beweise" für diese Behauptung gefälscht und daß die "Geständnisse" durch Folter erzwungen worden waren. Die Verantwortlichen wurden zur Rechenschaft gezogen, und Berija verbot auch das Foltern von Gefangenen. Schon Ende März 1953 wurde eine Amnestie für über 1 Millionen Insassen von sowjetischen Zwangsarbeitslagern erlassen. Im Mai schlug Berijas Innenministerium vor, zukünftig politischen Führungspositionen in den einzelnen Sowjetrepubliken mit Einheimischen zu besetzen. Berijas Beauftragte verhandelten sogar mit inhaftierten westukrainischen Kirchenführern - offensichtlich wollte Berija auch Religionsfreiheit gewähren. Auch die Anregung zur Beendigung des Korea-Krieges kam aus Berijas Innenministerium.

Und auch in der deutschen Frage vertrat Berija geradezu revolutionäre Standpunkte: Der Ministerrat beschloß am 2. Juni 1953 auf seine Initiative, daß die SED ihre Politik des forcierten Aufbaus des Sozialismus einstellen, ihre Willkürjustiz beenden und für ein demokratisches und friedliches Gesamtdeutschland arbeiten solle! Ursprünglich enthielt Berijas Vorlage sogar die Formulierung, daß man in der DDR ganz auf den Aufbau des Sozialismus verzichten solle. Das konnte er jedoch nicht durchsetzen.

Ulbricht wurde nach Moskau zitiert und machte kein Hehl aus seiner Ablehnung. Chruschtschow sagte dazu vor dem ZK-Plenum: „Als wir diese Frage erörterten, schrie Berija den Genossen Ulbricht und andere deutsche Genossen derart an, daß es schon peinlich war.“ Ulbricht war damit praktisch schon fallen gelassen worden.

Berija hoffte, mit diesem liberalen Kurs seine Popularität im Inland zu erhöhen. Und ihm war auch bewußt, daß die Lage in den von der Sowjetunion kontrollierten ost- und mitteleuropäischen Ländern katastrophal war.

Damit machte er sich aber auch Gegner. Manche KPdSU-Funktionäre betrachteten es als Fehler, die Positionen in Mittel- und Osteuropa aufzugeben. Und vor allem wurden Berijas Bestrebungen, Staat und Partei zu trennen und die Kontrolle der Partei über den Staat zu vermindern, von vielen Funktionären mit Mißtrauen betrachtet. Molotow beispielsweise gehörte zu den Gegnern Berijas.

Solange Berijas Politik funktionierte, konnte man ihn schlecht angreifen. Der Aufstand vom 17. Juni 1953 dagegen erschien vielen Gegnern Berijas und vor allem auch vielen bis dahin noch Unentschlossenen als Signal dafür, daß diese liberale Politik falsch war.

Berija hatte sich mittlerweile auch seinen ursprünglichen Verbündeten Malenko zum Feind gemacht, indem er gegen einen von dessen Gefolgsleuten vorgegangen war. So begann Chruschtschow mit einer ZK-Sitzung vom 26. Juni 1953 damit, Berija zu entmachten. Daß er damit gerade jetzt, nur wenige Tage nach den Ereignissen in der DDR, begann, war kein Zufall. Er ließ Berija verhaften und schließlich auch zum Tode verurteilen.

Mit der "Entstalinisierung" war damit erst einmal Schluß, und auch Ulbricht wurde nun wieder von der Sowjetregierung unterstützt. Zwar nahm Chruschtschow 1955 die Entstaliniserung wieder auf, aber der Deutschland-Kurs wurde nun nicht mehr geändert.

"Daß die Hetze westlicher Agenten damals derart rattenscharf war, daß die Arbeiter im Osten ja gar nicht anders konnten als zu revoltieren und daß die Anhebungen des Arbeitsplansolls durch die SED („Bauch, Bart und Brille sind nicht Volkes Wille!“), sowie der permanente Mangel an allem Lebenswichtigen, im Verhältnis zur westlichen Zersetzungs- und Wühlarbeit, letztlich läppischen Marginalien gleich kamen..."

Selbstverständlich hätte kein westlicher Agent die DDR-Bürger zu einem Aufstand bewegen können, wenn es nicht wirklich massive Unzufriedenheit gegeben hätte. Daß westliche Geheimdienste damals aber tatsächlich Agenten in die DDR geschickt haben, um die Sache noch weiter zu eskalieren, ist mittlerweile kein Geheimnis mehr. Das wirst du in allen neueren, ernsthaften Veröffentlichungen zu dem Thema finden.

"aber das ist eines der Prinzipien von Revolten wie Revolutionen gleichermaßen, zu denen ich gar nicht aufgerufen habe."

Das hatte ich dir auch nicht unterstellt. Mein Beitrag dazu bezog sich einfach allgemein auf das Thema "Revolution", weil es ja tatsächlich immer wieder auch hier Leute gibt, die sowas als Lösung der Gleichberechtigungsproblematik propagieren.

Freundliche Grüße
von Garfield

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