Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

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Demokratiekritik

bberlin, Friday, 02.03.2012, 17:17 (vor 4409 Tagen) @ Mus Lim

Dazu ein lesenswerter Artikel

Die Macht der Masse
Von Hannes Stein

In der Demokratie herrschen alle über alle. Was aber, wenn eine Minderheit nicht mit dem Willen aller übereinstimmt? Dann gibt es mehr zu beklagen als nur einen logischen Widerspruch
Vor der Demokratie zu warnen hat in der abendländischen Philosophiegeschichte eine lange Tradition. Der Historiker Polybios schrieb, dass die Demokratie eine Neigung habe, zur Ochlokratie zu verkommen, zur Herrschaft des Pöbels - in der Pöbelherrschaft aber warte immer schon ein Tyrann hinter den Kulissen, der dann im Namen des Volkes den Laden übernimmt. (Ein Beispiel für diese These, von dem Polybios allerdings noch nichts wissen konnte: Napoleon.) Immanuel Kant stand im 18. Jahrhundert mit beiden Beinen fest in dieser philosophischen Tradition. In seiner Schrift "Zum ewigen Frieden" bestimmte er, die Demokratie sei "im eigentlichen Verstande des Wortes notwendig ein Despotism, weil sie eine exekutive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin alle, die doch nicht alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist." Wir kommen noch darauf, was diese hellsichtigen Worte bedeuten.
Die amerikanischen Gründungsväter hatten ihre alten Griechen gelesen; sie waren ebenfalls keine Demokraten. Eine Republik wollten Jefferson, Madison und Hamilton wohl - also: Gewaltenteilung, Religionsfreiheit, einen Katalog von Grundrechten -, aber einen Staat, in dem jeder Trottel wählen darf, unabhängig vom Stand, vom Besitz, vom Bildungsgrad? Eines Tages wurde allerdings doch die Demokratie in Amerika eingeführt, und zwar von Andrew Jackson. In seiner Regierungszeit - 1829 bis 1837 - setzte dieser Präsident durch, dass mit der revolutionären Parole "one man, one vote" voller Ernst gemacht wurde. Jedenfalls beinahe. Jeder noch so arme Schlucker, jeder Analphabet durfte danach wählen, vorausgesetzt, dass seine Epidermis weiß war. (Frauen erhielten das Wahlrecht in der gesamten Union freilich erst 1920.) Andrew Jackson war ein radikaler Populist, der unter anderem die zweite Zentralbank der amerikanischen Republik zerstörte, weil er sie für das Zentrum einer kapitalistischen Verschwörung hielt.
Jackson war darum der Held aller europäischen Linken. Gleichzeitig fiel in seine Präsidentschaft die Deportation der "fünf zivilisierten Indianernationen" - der Cherokee, Chickasaw, Choctaw, Creek und Seminolen -, die mit vorgehaltener Waffe in das "Indianerterritorium" westlich des Mississippi (also ins heutige Oklahoma) gezwungen wurden. In die Geschichte der Cherokee ist diese Episode als "Zug der Tränen" eingegangen. Der weite Weg nach Westen kostete einem Viertel des Stammes, vor allem Alten und Kindern, das Leben. In den Geschichtsbüchern wird dies meist als "einerseits - andererseits" dargestellt. Also: Einerseits müsse Andrew Jackson als progressiver Präsident bezeichnet werden, weil er die Demokratie in Amerika einführte; andererseits sei da diese unschöne Sache mit den Indianern gewesen. In Wahrheit gehören beide Seiten zusammen: Andrew Jackson ließ die Indianer deportieren, nicht obwohl, sondern weil er Demokrat war. Er beging diesen genozidalen Akt als Volkstribun; er vollstreckte den Willen der Armen und Unterdrückten, denen er zum Wahlrecht verholfen hatte.
Schauen wir uns daraufhin nun noch einmal den Satz von Immanuel Kant an: In der Demokratie, sagt dieser Philosoph, herrschen alle über alle. Was aber, wenn eine Minderheit - und sie muss nur aus einem Individuum bestehen - nicht mit dem Willen aller übereinstimmt? Dann haben wir erstens einen logischen Widerspruch (es kann sich ja nicht mehr um die Herrschaft aller handeln); zweitens werden die Rechte dessen, der nicht übereinstimmt, mit Füßen getreten. Und das, so Kant, sei "notwendig ein Despotism". In der Tat, fragen Sie die Cherokee. Wenn Freiheitsfreunde sagen, sie seien für die Demokratie, dann meinen sie etwas ganz anderes; sie wollen damit eigentlich und genauer sagen, dass sie für die liberale Demokratie sind. Dabei wird übersehen, dass der ganze Zauber im Adjektiv steckt, nicht im Substantiv.
"Demokratie" heißt einfach nur, dass gewählt wird und die Mehrheit entscheidet - auch wenn es sich bei jener Mehrheit um einen Haufen abergläubischer Bauern mit Fackeln und Mistgabeln handelt. "Liberal" bedeutet dagegen, dass es Rechte gibt, die auch von den Bauern mit ihren Fackeln und Mistgabeln nicht ausgehebelt werden können: das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Eigentum, das Recht, eine Religion auszuüben (auch eine Religion, die den anderen verhasst ist), das Recht, Atheist zu sein, das Recht, seine Meinung zu äußern - auch dann, wenn diese Meinung falsch, töricht oder verwerflich sein sollte. Der Demokratie geht es letztlich nur um ein mathematisches Verhältnis: Wähler werden als Gleiche betrachtet (die sie nicht sind) und anschließend zusammengezählt. Dem Liberalismus geht es stattdessen um das Recht des einzigartigen, unverwechselbaren Individuums; ein Recht, das durch kein Zahlenverhältnis ausgedrückt werden kann.
Viele meinen nun, dass das Adjektiv und das Substantiv - also "liberal" und "Demokratie" - urwüchsig zusammengehören, dass diese beiden Dinge nicht voneinander getrennt werden können. Ein historischer Irrtum. Großbritannien war liberal, lange bevor es demokratisch wurde. Schon im 17. Jahrhundert galten dort die Habeas-Corpus-Akte (die den Einzelnen vor willkürlichen Verhaftungen schützt) und der schöne Brauch, dass Zeitungen nicht der Zensur unterlagen. Es muss demnach als Zufall verbucht werden, dass Demokratie und Liberalismus heute in den westlichen Ländern stets als Paar auftreten; und es könnte gut sein, dass sich diese Koppelung eines Tages wieder auflöst. Tatsächlich geschieht diese Auflösung längst vor unseren Augen: Das Ergebnis des viel besungenen "arabischen Frühlings" werden aller menschlichen Voraussicht nach unliberale, ja, antiliberale Demokratien sein. Quasi im Umkehrschluss könnte auch der Westen auf die Idee verfallen, das Junktim zwischen Demokratie und Liberalismus aufzukündigen.
In diesem Fall gälte es, sich auf das zu besinnen, was wichtig ist und mit Zähnen und Klauen verteidigt werden muss. Nicht die Demokratie, denn die verträgt sich hervorragend mit Nationalismus, Rassismus, Völkermord und finsterster Intoleranz. Verteidigt werden müssen vielmehr die Rechte des Individuums - notfalls gegen die Masse, den demokratischen Mob.


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