Wieviel «Gleichberechtigung» verträgt das Land?

Archiv 2 - 21.05.2006 - 25.10.2012

233.682 Postings in 30.704 Threads

[Homepage] - [Archiv 1] - [Archiv 2] - [Forum]

Verrohung der Herzen

Flint ⌂, Saturday, 08.10.2011, 22:45 (vor 4586 Tagen) @ Karl Toffel
bearbeitet von Flint, Saturday, 08.10.2011, 22:53

Wir leben in einer kranken Gesellschaft, wie sie nur in zwei Perioden
denkbar ist: In einer ideologisch geprägten (z. B. stalinistischen) oder
einer zutiefst dekadenten Überflussgesellschaft (siehe Spät-Rom).

Aus: Tagebücher 1855-1862, Kap.: “Raketen“ [Fusées; ebd., S. 211-213]

Die Welt wird aufhören zu bestehen. Der einzige Grund, weshalb sie dauern könnte, ist der, daß sie besteht. Wie schwach ist dieser Grund im Vergleich mit allen denen, welche das Gegenteil ankündigen, vor allem aber mit diesem: Was hat die Welt noch weiter unter dein Himmel zu schaffen? — Denn sogar angenommen, sie bestände tatsächlich weiter, wäre diese Existenzwürdig des Namens und des historischen Diktionärs? Nicht etwa, daß ich sagen möchte, die Welt würde in die Verhältnisse und die possenhafte Unordnung der südamerikanischen Republiken zurückversetzt werden, ja daß wir vielleicht sogar zum Zustand der Wilden zurückkehren und mitten durch die grasbewachsenen Ruinen unserer Zivilisation, die Flinte in der Hand, unser Futter suchen gehen würden. Nein, denn solche Abenteuer setzten noch eine gewisse Lebensenergie voraus, ein Echo der ersten Zeitalter. Als neues Beispiel und als neue Opfer der unerbittlichen sittlichen Gesetze werden wir an dem zugrunde gehen, worin wir zu leben glaubten. Die Technik wird uns so amerikanisiert, der Fortschritt so gründlich den Nachteil des Geistes in uns verkümmert haben, daß keiner von den blut-triefenden, verruchten und widernatürlichen Träumen der Utopisten sich mit ihrem wirklichen Ergebnis vergleichen lassen wird. Ich frage jeden denkenden Menschen, er zeige mir, was vom Leben noch vorhanden ist. Was die Religion betrifft, so halte ich es für zwecklos, von ihr zu sprechen und nach ihren Überresten zu suchen, da es bloß eine Lästerung bedeuten würde, wollte man es versuchen, in derartigen Dingen Gott zu leugnen. Das Eigentum war praktisch bereits mit der Aufhebung des Rechtes der Erstgeburt verschwunden; doch kommt die Zeit, wo die Menschheit wie ein rächender Oger ihr letztes Stück denen entreißen wird, welche glauben, die Revolutionen rechtmäßig ererbt zu haben. Und das wäre nicht das schlimmste Übel.

Die menschliche Einbildungskraft kann sich ohne allzu große Mühe Republiken oder andere einiges Ruhmes würdige güter-gemeinschaftliche Staatsformen ausdenken, wenn diese von ehrwürdigen Männern gelenkt werden, von zuverlässigen Aristokraten. Doch werden es im besondern nicht politische Einrichtungen sein, durch die der allgemeine Verfall zutage treten wird, oder der allgemeine Fortschritt; denn der Name hat wenig zu besagen. Er wird infolge von Verrohung der Herzen eintreten. Brauche ich es erst zu sagen, daß das Wenige, das von der Politik übrigbleiben wird, kläglich in der Umklammerung einer allgemeinen Animalität zappeln wird und daß die Regierungen, um sich zu halten und einen Schein von Ordnung zu schaffen, gezwungen sein werden, zu Mitteln zu greifen, die unsere heutige, gewiß hartgesottene Menschheit erzittern ließen? — Dann wird der Sohn die Familie nicht erst mit achtzehn Jahren verlassen, sondern mit zwölf, mündig erklärt von seiner eigenen begehrlichen Frühreife; er wird davonlaufen, nicht um heroische Abenteuer zu suchen, nicht um eine in einem Turm gefangen-gehaltene Schönheit zu befreien, nicht um eine Dachkammer durch erhabene Gedanken unsterblich zu machen, sondern umeinen Handel zu gründen, um sich zu bereichern und seinemehrlosen Papa Konkurrenz zu machen, dem Gründer und Aktionär einer Zeitung, welche Licht verbreiten und bewirken wird, daß man das Jahrhundert jener Epoche für eine Ausgeburt des Aberglaubens halten wird. — Dann werden die verirrten, die deklassierten Frauen, diejenigen, welche ein paar Liebhaber gehabt haben und die man bisweilen Engel nennt, zufolge und dank ihrem Leichtsinn, der, ein Licht des Zufalls in ihrem logischen Dasein, hell wie das Böse glänzt, — dann werden, wie gesagt, diese Frauen nur mehr die unnachsichtliche Bravheit in Person sein, eine Bravheit, die alles verdammt, his aufs Geld, alles, selbst die Irrtümer der Sinne! Dann wird alles, was mit der Tugend eine Ähnlichkeit, was sage ich, alles, was nicht ein einziges Streben nach Reichtum ist, als unendlich lächerlich gelten. Die Gerechtigkeit, wenn es in dieser glücklichen Zeit noch eine Gerechtigkeit geben kann, wird alle Bürger abschaffen, die es nicht verstehen werden, Geld zu machen. Deine Gattin, o Spießbürger! Deine keusche bessere Hälfte, deren Legitimität für dich die Poesie ausmacht, wird, indem sie künftighin in die Rechtmäßigkeit das gemeine Motiv der Untadelhaftigkeit einführt, als wachsame und liebende Hüterin deines Geldschrankes, nur mehr das vollkommene Ideal der ausgehaltenen Frausein. Deine Tochter, bereits im Kindesalter heiratsfähig, wird in der Wiege träumen, daß sie mit einer Million zu Verkauf stehe, und du selbst, o Spießbürger, — dann noch weniger Dichter als du es heute bist, — wirst nichts dagegen einzuwenden haben; du wirst nichts bedauern. Denn es gibt Dinge im Menschen, die im gleichen Maße kräftiger werden und gedeihen, wie andere schwächer werden und verkümmern; und dank dem Fortschritt dieser Zeiten werden dir von deinen Eingeweiden nur mehr die Gedärme übrigbleiben! Vielleicht sind diese Zeiten schon sehr nah; ja wer weiß denn, ob sie nicht gar schon da sind und ob nicht die Dickfelligkeit unserer Natur das einzige Hemmnis ist, das uns hindert, die Umgebung, in der wir atmen, richtig einzuschätzen.

Was mich betrifft, der ich manchmal in mir das Lächerliche eines Propheten verspüre, so weiß ich, daß ich dabei nie die Nächstenliebe des Arztes aufbringen werde. Verloren in dieser abscheulichen Welt, herumgestoßen von den Mengen, will ich wie ein Ermüdeter, dessen Auge rückwärts in die Tiefe der Jahre gewandt nur Enttäuschung und Bitterkeit erschaut, und vor sich nur ein Gewitter, das nichts Neues enthält, weder Belehrung noch Schmerz. An dem Abend, an dem dieser Mann dem Schicksal einige Stunden des Vergnügens gestohlen hat, eingewiegt in seine Verdauung, vergessen — so weit als möglich— der Vergangenheit, zufrieden mit der Gegenwart und ergeben in die Zukunft, berauscht von seiner Kaltblütigkeit und seinem Dandytum, stolz, nicht so niedrig zu sein, wie die, welche vorübergehen, da betrachtet er den Rauch seiner Zigarre und sagt sich: Was kümmert es mich, woraus diese sich ein Gewissen machen.

Ich glaube, ich bin in etwas hineingeglitten, was die Leute vom Fach ein Hors d'Oeuvre nennen. Ich will indessen diese Seiten stehen lassen — weil ich meinen Zorn mit einem Datum versehen möchte.

Charles Baudelaire

-----------

Dieser Text wurde größtenteils einmal in einem Dokumentarfilm über Baudelaire u.a. mit aktuellen Bildern der neuzeitlichen Dekadenz und Verrohung der Sitten unterlegt, gebracht. Werde die Stelle bei Gelegenheit bei Youtube hochladen und hier verlinken.

Gruß
Flint

.

--
[image]
---
Der Maskulist
---
Familienpolitik


gesamter Thread:

 

powered by my little forum