Der Apfel und seine Feinde

Bernhard Lassahn

Bernhard Lassahn

Von Bernhard Lassahn

An einer Stelle fällt Vladimir Nabokov in seinem wunderbaren Buch Erinnerung, sprich aus der Rolle und wendet sich direkt an den Leser, als müsste er dringend etwas klären: Es ist nicht so, dass er gegen den Kommunismus ist, weil der seine Familie um ihr Vermögen gebracht hat, es ist die unmenschliche Gleichmacherei, die ihm so verhasst ist.

Wie sieht es hier und heute damit aus? Die moderne Gleichmacherei ist allgegenwärtig und umfassend: Eine Kopie ist nicht mehr vom Original zu unterscheiden, Politiker differenzieren nicht zwischen „Gleichstellung“ und „Gleichberechtigung“. Anführungsstriche schützen nicht mehr, es wird nicht unterschieden, ob jemand seine eigene Meinung vertritt oder eine fremde zitiert, die Meinung eines Redners wird genauso gewertet wie die des Mannes, der ihm das Mikrofon hinstellt. Alles gleich. Da wird kein Unterschied mehr gemacht. Denn Unterscheiden heißt Diskriminieren. So etwas tun wir nicht.

Wir können auch Satire nicht mehr von wahren Meldungen unterscheiden. Was stimmt? Entscheiden Sie selbst: Soll Hitlers Mein Kampf, sobald die Rechte frei sind, in gerechter Sprache umgeschrieben werden? Ist heute schon Werbung verboten, die Frauen als Hausfrauen darstellt? Darf es in manchen Gemeinden nur noch Instrumentalversionen von Weihnachtsliedern geben, um andere Religionsgruppen nicht zu beleidigen? Werden an manchen Universitäten männliche Professoren als Professorinnen bezeichnet, um Geschlechtergerechtigkeit zu fördern?

Mario Vargas Llosa beklagt, dass die Gleichheitsidee Verwirrung stiftet. Er sagt: „Zu glauben, dass alle Kulturen Achtung verdienen, da es in allen positive Beiträge zur menschlichen Zivilisation gibt, ist eine Sache; eine ganz andere dagegen, zu glauben, dass alle, bloß weil es sie gibt, gleichwertig seien. So unglaublich es klingt, aber genau Letzteres ist passiert, und zwar aufgrund eines kolossalen Vorurteils – erwachsen aus dem Wunsch, ein für alle Mal sämtliche kulturellen Vorurteile aus der Welt zu schaffen.“

Das haben wir nun davon: Um ein paar kleine Vorurteile aus der Welt zu schaffen, sind wir einem großen, einem kolossalen Vorurteil, verfallen. „Die Political Correctness hat uns irgendwann eingebläut“, sagt Vargas Llosa weiter, „dass es anmaßend, borniert, kolonialistisch und eben gar rassistisch sei, von höheren und niederen Kulturen zu sprechen und selbst von modernen und primitiven.“ Dann sagen wir lieber gar nichts mehr. Es hat sich ein Schweigen ausgebreitet, wie man es aus totalitären Staaten kennt.

Die Planierraupe der Gleichstellung rollt indessen weiter mit Quotenregelungen, die wie Backrezepte daherkommen. Wenn man etwa den Frauenanteil um 10 Prozent erhöhen will, damit im Führungsteam die Mischung stimmt, klingt es so, als würde man empfehlen, noch zwei gehäufte Esslöffel Mehl hinzuzugeben, damit der Kuchen gelingt. Dabei wird unterstellt, dass in der Menge der Frauen an jeder Stelle dieselbe Konsistenz vorhanden ist wie an jeder Stelle in der Tüte Mehl. So wird mit beiläufiger Selbstverständlichkeit eine Gleichheit und Austauschbarkeit aller Beteiligten vorausgesetzt und Qualität durch Quantität ersetzt.

In einem Buch von Kurt Vonnegut, der vermutlich aufgrund seines Humors bei uns unterschätzt wird, stellt er uns ein Land vor, in dem der Ewig Gleichgültige Gott herrscht und in dem alle, die eine besondere Fähigkeit oder besondere Schönheit haben, ausgleichende Gewichte tragen müssen, die ständig nachreguliert werden. Wir sind nicht weit davon entfernt, wir marschieren im Gleichschritt darauf zu. Unser Ideal ist ein Laden, in dem alles nur einen Euro kostet, und die Kundschaft von einem „besinnungslosen“ Grundeinkommen träumt – das habe ich jetzt absichtlich falsch geschrieben.

Nina Hagen verkündete einst bei einem ersten Blick in den Westen, dass „alles so schön bunt“ sei und sie sich nicht entscheiden könne. Es soll demnächst sogar noch bunter werden – nur Pink ist unerwünscht. Doch eine Buntheit, die letztlich dem Diktat der Gleichheit unterliegt, hinterlässt ein Warnzeichen, das man als Kind in Erinnerung hat, als man seinen Tuschkasten durchprobierte und sich ein hässlicher, gelblich-grüner Farbton der Lustlosigkeit im Wasserglas bildete. Gleiche Gültigkeit heißt Gleichgültigkeit. Und Gleichgültigkeit ist das Ende der Liebe und der Lust.

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Wie steht es mit der Lust? Manche kennen vielleicht noch die Hardrock-Gruppe mit dem anspielungsreichen Namen AC/DC, der sich auf E-Gitarren und sexuelle Orientierungen bezieht. AC/DC heißt: Gleichstrom/Wechselstrom. Es gibt beides. Es ist nicht gleich. Bei Strafe eines Stromschlages sollte man es nicht verwechseln.

AC/DC ist inzwischen eine Rentnerband. Die Zeiten haben sich geändert. Es geht nicht mehr darum, dass Gleichstrom und Wechselstrom nebeneinander stehen. Sie wollen ins selbe Stromnetz eingespeist werden.

Mehr noch: Zu Homos und Lesben gesellen sich noch andere Orientierungen – welche und wie viele, weiß niemand genau. Man spricht von Vielfalt, sicher ist da noch viel Orientierungslosigkeit dabei. Doch es sieht auf den ersten Blick nach paradiesischen Zuständen aus.

Wir dürfen von allem, was es gibt, kosten. Auf eigenes Risiko. Manche Früchte können giftig sein, manche schmecken nicht. Ganz wie im Paradies. Wir dürfen in alles reinbeißen, nur nicht in den Apfel. Es ist eben doch nicht alles gleich. Der Apfel ist nicht nur Symbol für Verführung und Erkenntnis, sondern auch für Fruchtbarkeit. Das ist bei anderen Obstsorten nicht so. Adam und Eva haben sich nicht hinter dem Busch verkrochen, um sich mit Oralsex zu vergnügen. Den hätten sie auch ohne Apfel haben können.

Wenn alle Orientierungen gleich wären, bräuchten wir keine Verhütungsmittel und hätten auch nie welche gebraucht. Wir könnten uns lieben, wie es gerade passt, nur wenn wir ein Kind wollten, müssten wir zum Apfel greifen. Sonst müssten wir darauf verzichten, was uns bei dem reichhaltigen Angebot, das es gibt, nicht schwerfallen sollte. Ist doch der Apfel angeblich nur eine Obstsorte unter vielen. Ist es so?

Es ist nicht so. Sexualität lässt sich nicht problemlos von der Zeugung trennen und die Sexpraktiken sind deshalb auch nicht alle gleich. Das „alte Rein-Raus-Spiel“, wie es im Film Clockwork Orange verächtlich genannt wird, ist und bleibt die Königsdisziplin unter den sexuellen Betätigungen. Alles andere sind Varianten, Ersatzbefriedigungen und Spezialitäten, die durchaus ihren Reiz haben. Doch sie haben die Melancholie des Zweitbesten und den bitteren Nachgeschmack von Methadon. Wir bewegen uns damit immer nur im Vor-Himmel. Kinder – und ich bekenne, ich war auch so – naschen mit Vorliebe den Kuchenteig, wenn sie jedoch immer nur alles vernaschen wollen und darüber nicht hinauskommen, werden sie nie einen Kuchen backen.

Die Entscheidung gegen den Apfel ist die Entscheidung gegen das Kind. Das Versprechen von Vielfalt soll uns darüber hinwegtrösten. Doch Vielfalt tröstet nicht, erst recht nicht, wenn es eine Vielfalt ist, bei der letztlich alles gleichwertig sein soll. Da wird aus Liebe schnell Beliebigkeit. Der Verlust von Qualität kann vielleicht an Universitäten, aber nicht in unserem Gefühlsleben durch Quantitäten ausgeglichen werden.

Sehen wir uns die Vielfalt in der World of Sex an. Wenn Sex an erster Stelle steht und alles andere sich unterordnet, sind wir bei dem heimlichen gemeinsamen Nenner von Pornographie und Feminismus. Pornos sind weltfremd und realistisch zugleich. Sie stellen Intimität dar und zerstören sie im selben Moment, der Akt wird tatsächlich vollzogen und ist doch „nur“ gespielt. Er ist echt und unecht zugleich. Es gibt kein Vorher und kein Nachher.

Pornos sind Propagandafilme gegen Kinder. Eine Befruchtung findet offensichtlich nicht statt. Es gibt Szenen, die das beweisen. So wie neuerdings im Abspann mancher Filme zu lesen ist, dass „für diesen Film keine Tiere gequält“ wurden, so könnte es im Abspann von Pornos heißen: „Bei den Dreharbeiten wurden garantiert keine Kinder gezeugt.“ Auch wenn sich alles um das Instrumentarium der Fortpflanzung drehte.

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Ersatzweise wird eine falsche Vielfalt beschworen. Um die geht es auch in einem offenen Brief an die Mitglieder des Bundestages, der u.a. von Martin Walser und Günter Grass unterzeichnet ist, und die „vollständige Öffnung der Ehe auch für gleichgeschlechtliche Paare“ fordert. Hier meldet sich nicht der Fanclub von AC/DC, es geht um mehr. Im Brief steht ein Satz, der auf den ersten Blick nicht sonderlich auffällt. Er lautet: „Gleichgeschlechtliche Liebe ist Liebe wie jede andere auch.“

Die Boshaftigkeit steckt in dem kleinen Wort „jede“, es heißt: „jede andere Form von Liebe auch“ – was ist gemeint? Der direkte Vergleich der Liebe von Mann und Frau mit der gleichgeschlechtlichen Liebe wird verständlicherweise gemieden. Der Unterschied ließe sich nicht leugnen. Es geht um jede Art von Liebe. Damit kommt die Liebe zwischen Mann und Frau in schlechte, ja kriminelle Gesellschaft zu all den Sonderformen und Abarten, die jetzt noch als Perversion gelten.

Alle, die sich noch mit ihren besonderen Gelüsten strafbar machen und sich deshalb diskriminiert fühlen, scharren schon mit den Hufen. Sie haben das kleine Wörtchen „jede“ bestimmt nicht überlesen. Die Weichen sind gestellt. Die Prinzipien formuliert, die Strategie zur Erreichung dieser Ziele ist beschrieben, die skandinavischen Länder setzen sich besonders intensiv dafür ein, benannt sind die Prinzipien nach dem Ort, an dem sie beschlossen wurden: Yogyakarta.

Es wird auf uns zukommen. Nach den Prinzipien von Yogyakarta soll keine Art von sexueller Präferenz und Aktivität mehr ausgeschlossen sein. Alles soll dazugehören: Pädophilie, Inzest, Polyamorie, Zoophilie – nicht zu vergessen: die Liebe zu sich selbst sowie zu Gurken, schon bei Edeka heißt es: „Wir lieben Lebensmittel“. Was darf es sonst noch sein? Vielleicht die Liebe, wie sie Marquis de Sade beschrieben, oder Otto Mühl verfilmt hat? Oder die abweichenden Vorlieben, die Alfred Kinsey als mögliche Varianten auch mit einbezieht, wie etwa den Lustmord?

Stufe für Stufe sind wir in den Keller der Gleichstellungspolitik abgestiegen, und haben uns dabei immer weiter von Kindern entfernt. Auf der ersten Stufe gab es die Inklusion. Da ging es um die Einbeziehung von etwas, das vorher nicht dazugehörte: die gleichgeschlechtliche Liebe. Homos und Lesben wollten auch mit dabei sein und nicht länger ausgeschlossen werden. Kaum waren sie dabei, wollten sie gleichgestellt werden und als gleichwertig gelten. Das sind sie aber nicht. Dann müssen eben alle so tun, als wären sie es doch. Und schon drängeln die nächsten Orientierungen herbei, poltern an die Kellertür und wollen auch mitmachen.

Was können wir tun, wenn Äpfel tabu sind und wenn nicht gelten darf, dass die Liebe zwischen Mann und Frau neues Leben zeugen und ein Fenster mit Blick auf die Unendlichkeit aufsperren kann, andere Varianten das aber nicht können? Was dann? Dann müssen Zeugung und Nichtzeugung gleichgestellt werden. Wie geht das, wenn sie nicht gleich sind? Es geht nur, indem man der Zeugung ihren besonderen Wert nimmt. Entweder darf das Ergebnis der Zeugung nicht zählen oder es darf jene Liebe nicht zählen, die diese Zeugung bewirkt hat.

Aus der zeugenden Liebe muss entweder das Kind herausgerechnet werden oder die Liebe. Dann ist die Zeugung eines Kindes lieblos, und wenn sie lieblos geht, geht sie auch künstlich. Wenn bei der Liebe die Zeugung fehlt, dann kann auch bei der Zeugung die Liebe fehlen.

Kein einziges homosexuelles Paar zeugt durch künstliche Befruchtung ein eigenes Kind. Das Adjektiv „künstlich“ verführt zu der Illusion, dass zwei Gleichgeschlechtliche plötzlich ein Kind kriegen. Doch auch die Eltern eines solchen Kindes bestehen immer aus einem Mann und einer Frau. Und gerade für die künstliche Befruchtung ist es unerheblich, was für eine sexuelle Orientierung die Beteiligten haben, ob der Samenspender schwul oder die Leihmutter lesbisch ist. Das homosexuelle Elternpaar braucht die gegengeschlechtliche Ergänzung, die erkaufte Hilfe einer verschwiegenen dritten Person. Die Adoption bei gleichgeschlechtlichen Paaren schafft ein neues Unrecht – nicht nur gegen das Kind, sondern auch gegen diese dritte Person.

Sie muss bereit sein, spätestens nach der Geburt zurückzutreten. Die rabiate Ungleichbehandlung, die einem leiblichen Vater oder einer leiblicher Mutter widerfährt, ist der Preis für die Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen „Elternschaft“, die ich hier bewusst in Anführungsstriche setze.

Das Verhältnis zur dritten Person ist fast immer ungut: Die Leihmutter ist arm und weit weg, der Samenspender darf womöglich zahlen, aber nicht mit seinem Kind zusammen sein. Die ferngehaltenen Dritten werden um das Glück, das sich die Homo-Eltern erkaufen, betrogen. Sie müssen ihre Elternschaft verdrängen, und das Kind muss sie entbehren. Das gleichgeschlechtliche Paar kann sich womöglich über die Tatsache hinwegtäuschen, dass einer von beiden nicht der leiblicher Elternteil ist, doch das Kind wird damit um die Hälfte seiner Identität betrogen.

Natürlich kommt es vor, dass Kinder nur ein Elternteil erleben. Das galt bisher als das zweitgrößte anzunehmende Unglück für ein Kind. Plötzlich scheint es das nicht mehr zu sein. Das Drama des Scheidungskindes, auch des Kuckuckskindes, darf ab sofort im Interesse von rein sexuellen Vorlieben vorsätzlich herbeigeführt werden. Auch das ist Kindesmissbrauch.

Es ist nicht klar, ob gleichgeschlechtlich Liebende das Leben nicht weitergeben können oder nicht wollen. Vielleicht können sie nicht, obwohl sie wollen, vielleicht wollen sie nicht, obwohl sie könnten. Zwischen Nichtkönnen und Nichtwollen wird kein Unterschied gemacht. Wir sollten es aber tun: Das Wollen ist ein Bestandteil der Liebe. Es zeigt, ob ein Kind gewollt ist und ob man ihm mit Wohlwollen begegnet. Bisher hatten wir Fälle, da wollten Eltern ein Kind, konnten es aber trotz vieler Versuche nicht selber zeugen und haben dann eins adoptiert.

Nun haben wir Fälle, da könnten Eltern durchaus ein Kind zeugen, sie wissen schließlich, wie es geht. Sie wollen ein Kind und würden ihm auch mit Wohlwollen begegnen. Indes es fehlt am Wohlwollen gegenüber dem anderen Geschlecht. Die Gleichgeschlechtlichen stehen dem anderen Geschlecht so unversöhnlich gegenüber, dass sie lieber unter sich bleiben. Doch die zeugende Liebe beruht auf persönlichem und allgemeinem Wohlwollen – gegenüber der anderen Person und gegenüber dem anderen Geschlecht. Ein Kind, das einen unauflöslichen genetischen Vertrag zwischen beiden Eltern darstellt, steht – symbolisch gesprochen – auf einer Brücke, die zwischen den Geschlechtern und den Familien errichtet wurde, und selbst wenn die Eltern geschieden sind, lebt die Liebe der Eltern in dem Kind weiter. Das Kind, das in einer Homo-Ehe lebt, hat eine solche Liebe nicht in sich und liegt im Graben zwischen den Geschlechtern, den die Gleichgeschlechtlichen nicht überwinden können, solange die Trennung vom anderen Geschlecht zur Voraussetzung ihrer Identität gehört.

Dass es bei all dem nicht um das Wohl der Kinder geht, ist offensichtlich. Johann Friedrich Herbart gilt als Klassiker der Pädagogik. Er gab zu Bedenken, dass wir alles, was wir Kindern antun, erst im Alter erkennen werden. Es ist eine Bemerkung, die auf den ersten Blick die Erziehungswissenschaft alt aussehen lässt und den Eindruck erweckt, als würden in ihren Kreisen Banalitäten diskutiert – es weiß doch jeder: Schäden, die in früher Kindheit entstehen, zeigen sich erst später, sie können sich ein Leben lang auswirken. Auch dass die Kindheit „irreversibel“ ist, wie Herbart betont, gilt als Gemeinplatz, wir können bei Kindern eben nicht wie beim Computer auf Neustart gehen.

Das heißt in unserem Fall, dass wir das Kindeswohl nicht losgelöst von späteren Entwicklungen beurteilen können. Wer es trotzdem tut, ist ein Scharlatan. Studien, die belegen wollen, dass eine Adoption durch ein schwules Paar das Kindeswohl nicht gefährdet, sind wertlos. Sie können die Problematik gar nicht erfassen, es sei denn, die Forscher wären – wie in einem billigen Sciencefiction – in eine Zeitmaschine gestiegen und wohlbehalten mit guten Nachrichten zurückgekehrt.

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Von Oliver Sacks kennen wir womöglich das Buch Der Mann, der seine Frau mit dem Hut verwechselte, in dem er seltene Krankheitsbilder beschreibt, die wie sich herausstellten, gar nicht so selten sind. Er kam als Jüngster von vier Kindern zur Welt. Seine Mutter war das sechzehnte von achtzehn Kindern. Mit all den Onkeln, Tanten und Cousinen kamen sie leicht auf über hundert, die sich häufig zu ausufernden Familienfesten trafen. „Ein Gefühl für die erweiterte Familie“, schreibt er, als würde er von einer versunkenen Welt erzählen, „war mir seit frühester Kindheit vertraut und lieb.“ Allein die Größe des Familienclans gab allen, die da hineinwuchsen, ein Gefühl von Sicherheit. Kinder können sich bei so einem Hintergrund – oder besser: über so einem Untergrund – wie Artisten auf dem Hochseil bewegen, sie wissen, dass unter ihnen ein großes Netz aufgespannt ist. Das Einzelkind von heute dagegen erschaudert, wenn es herabschaut und unten eine Alleinerziehende mit einem Kescher stehen sieht, die ihrerseits schutzbedürftig ist und eine Familie mit dem Staat verwechselt hat, so wie andere eine Frau mit dem Hut verwechseln.

Heute irren Kinder verloren in den Ruinen der zerbrochenen Familien umher. Ein Familienfest ist ein trauriges Picknick neben einem Rinnsal, das immer dünner wird. Man trifft sich nur noch auf Beerdigungen. Zuerst fehlte der Vater. Er wurde lächerlich gemacht, finanziell ausgeraubt, an den Rand gedrängt und schließlich abgeschafft. Er wird neuerdings als „Erzeuger“ bezeichnet, als wäre das Kind eine Ware und als wäre die Zeugung ein Vorgang, der vermutlich in einer Fabrikhalle stattgefunden hat. Man spricht auch davon, dass jemand „nur“ der biologische Vater ist.

Ersatzweise gibt es den „sozialen Vater“, der so manches Kind in die missliche Lage bringt, seine Eltern so vorzustellen: „Das ist mein biologischer Vater, das ist mein sozialer Vater, und das ist meine biologische und asoziale Mutter“. Der biologische Vater wurde unauffällig im Jahre 1998 mit dem Paragraphen 1592 ausradiert – ein Paragraph, der uns in einem Ton, als würde er mit Jugendlichen reden, die noch nicht aufgeklärt sind, die neue Sachlage so erklärt: „Vater eines Kindes ist der Mann, der zum Zeitpunkt der Geburt mit der Mutter des Kindes verheiratet ist“.

Die Abschaffung der Mutter erleben wir gerade. Sie wurde auf der Weltfrauenkonferenz in Peking beschlossen und ist als Querschnittsaufgabe in der Politik verankert. Die Quotenfrauen in den Parteien haben das abgenickt und durchgewinkt und jede Diskussion darüber verhindert. Das haben wir nun davon: In Peking wurde die Abschaffung der Vollzeitmutter gefordert, die Abschaffung der Rechte der Eltern über die Kinder; verlangt wurde außerdem, dass alle Frauen möglichst zu allen Zeiten einer Erwerbsarbeit nachgehen. So nähert man sich dem Ziel: weniger Kinder. Am besten keine.

Ohne Kinder haben wir eine rein horizontale Sexualität. Es gibt aber, was wir leicht vergessen, ein ebenso bedeutendes vertikales Geschlechterverhältnis. Eine Familie vereint nicht nur die Geschlechter, sondern auch die Generationen. Eine sexistische Sichtweise, die auf die horizontale Ebene begrenzt ist, setzt den Generationsbruch schon voraus. Es geht in so einer Sicht nur noch um zwei einsame Menschen, die sich „völlig losgelöst“, wie es im Schlager heißt, – sozusagen nackt – gegenüber stehen und nur noch die sexuelle Anziehung haben, die sie zusammenbringen könnte. Doch so ein Zusammenhält hält nicht. Nicht lange. Die Vernachlässigung der Vertikale rächt sich.

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Anfang des Jahres war ich in Vietnam auf den Spuren der politischen Schlagworte meiner Jugend. Vietnam hat 90 Millionen Einwohner, die Bevölkerungspyramide ist im Vergleich zu unserer genau umgekehrt: Man sieht fast nur junge Leute. Die Alten kämen auch bei dem Gewimmel kaum über die Straße. Es ist für den Fremden so viel offen zur Schau gestelltes Familienleben erkennbar, dass ständig Sehnsuchtsbilder aufscheinen. In Vietnam versuchen sie inzwischen, den Kinderreichtum zu regulieren. Ab dem dritten Kind muss erhöhtes Schulgeld gezahlt werden. Abtreibungen sind legal – werden aber moralisch verurteilt. Adoptionen sind für normale Paare möglich, sind aber schwierig, es gibt Probezeiten.

Dass die Familie den Krieg überlebt hat, verwundert nicht. Der Krieg hat sie sogar noch enger zusammengebracht. Doch es sieht so aus, als hätte die Familie obendrein den Kommunismus mit seiner Gleichmacherei überlebt.

Mit dem Namen „Tet“ verbinden wir die berühmte Tet-Offensive aus dem Jahre 1968, die letztlich die Wende im Krieg brachte. Sie fand – völlig unerwartet – just an diesem Tet-Fest statt, dem traditionellen Neujahrsfest, zu dem Kinder neu eingekleidet und alte Schulden beglichen werden. Das Tet-Fest ist ein Familienfest. Die Familien kommen aus allen Teilen des Landes zusammen. Als es noch geteilt war, wurde die Trennung, die in Vietnam viel gemeiner war als bei uns, gerade beim Tet-Fest schmerzlich empfunden. Nun können alle zusammenkommen und ein paar Tage unter sich sein. Wer nicht zur Familie gehört, darf in der Zeit das Haus nicht betreten.

Für die Frauen bedeutet das Tet-Fest: kochen. Für die Männer: zahlen. Sie besorgen sich Geldscheine, die wie frisch gebügelt wirken. Dann werden die Kinder mit Geldpaketen beschenkt. Später werden sie für die Alten sorgen. Das tun sie hoffentlich gerne. Sie müssen es lange tun. Man wünscht sich beim Tet-Fest ein langes Leben. Vietnam scheint ein Land zu sein, in dem das Wünschen noch hilft. Die Lebenserwartung ist annähernd so hoch wie bei uns – und das bei einem Bruchteil der Kosten, die der Staat für das Gesundheitswesen aufwendet.

Die Jungs übernehmen die Verantwortung für den Kontakt mit den Ahnen und führen Regie bei der Aufbereitung von Opfergaben, mit denen ihnen gedankt wird. Uns mag das lächerlich erscheinen, es ist ein Ritual, das die Vertikale betont. Männer ernähren die Familie und sorgen für ihr Wohlergehen. Der Sozialismus tut es nicht. Zwar haben sie in Vietnam – wie in Cuba ­– versucht, eine kostenlose Krankenversorgung einzuführen, doch die konnten sie nicht aufrechterhalten. Es gibt auch keine Altersversorgung, nur für die „Heldinnen des Krieges“, für Frauen also, die ihre Männer oder Söhne, von denen sie sonst versorgt würden, verloren haben. Der Staat bietet ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl: vor jedem Haus weht die Fahne ­– auch auf jedem Schiff. Die Sozialleistungen erbringt die Familie. Deshalb versuchen sie auch, das Geld in der Familie zu halten.

Es gibt ein Sprichwort: „Am Bergsteigen erkennen wir, wie mühsam das Leben ist, an unseren Kindern erkennen wir das Opfer unserer Eltern“. Wenn uns die Kinder fehlen, verpassen wir nicht nur die Möglichkeit, in die eigene Kindheit zurückzureisen und uns darin wiederzuerkennen, wir versäumen auch die Gelegenheit, einen besseren Blick auf unsere Eltern zu erhaschen; wir verstehen das Vorher und Nachher nicht richtig, nicht den Anfang und nicht das Ende des Lebens.

Der Gedanke dass wir in den Kindern weiterleben, ist unser letzter Rest von Gottesfürchtigkeit. Eine mögliche Antwort auf die Frage, ob es ein Leben nach dem Tod gibt. Sie gehört zu den großen Fragen, von denen Kurt Tucholsky sagt, dass sie liegen bleiben; als hätte man uns einen Fragebogen zugeschickt, den wir nicht sofort ausfüllen mussten, nun liegt er immer noch im Postfach.

Ich habe den kleinen Abstecher nach Vietnam unternommen, um dem Provinz-Mief zu entfliehen. Es geht nicht darum, wo die linke und wo die rechte Ecke ist und was die katholische Kirche dazu sagt. Familie und Kinder gab es, ehe Menschen das Wort „traditionelles Wertesystem“ buchstabieren konnten. Die Bedeutung der Familie ist übergeordnet. Wer Kinder hat, ist nicht „von vorgestern“, sondern „für morgen“.

Zugegeben: Ich war nur Tourist in Vietnam, wo mich der Kindersegen so beeindruckt hat. Doch da ist mir klar geworden, dass wir ohne Kinder nur Touristen in der Welt – und im Leben – sind.

Bernhard Lassahn